Tage Alter Musik – Almanach 2022

Tage Alter Musik Regensburg 2022 13 machen, denn das erzählt uns letztlich etwas über uns selbst. Und schließlich: Wir wollen, dass unsere Arbeit im Alltag von heute verankert ist. Wir sind keine Musikarchäologen, die sogar die Spinnweben aus der Vergangenheit bewahren wollen. Wir sind anders: wir wollen, dass die Musik lebendig ist – und kommunikativ! Was bedeutet denn in diesem Kontext Authentizität? emmanueL BaRdon: „Authentizität heißt, ehrlich zu den Leuten zu sein; wir im Ensemble CanticumNovum wollen mit Hilfe des Repertoires, das wir spielen, auch erzählen, wer wir sind. Wir kommen aus der französischen Stadt St. Etienne, das ist eine Arbeiterstadt mit Kohleminen, also eine sehr kosmopolitische Stadt. In einer Schulklasse mit 25 Schülern kann man 17 bis 20 verschiedene Muttersprachen finden. So erzählen praktisch auch alle unsere Programme, was verschiedene Kulturen verbindet. Wenn man sich den Repertoires der Alten Musik nähert, stellt man fest, dass alle Instrumente eine Mischung sind aus Süd und Nord, Orient und Okzident. Die Musik entwickelt sich immer weiter und erzählt uns von der Notwendigkeit, uns miteinander zu verbinden, von Gemeinsamkeiten, von Interkulturalität und einem kosmopolitischen Geist.“ Jetzt geht es heute im Konzert um mittelalterliche Laudes, also italienische, geistliche Gesänge. Was ist das für ein Repertoire? emmanueL BaRdon: „Das sind Gesänge aus der Zeit des Hl. Franz von Assisi, die in einer Stadt in der Nähe von Assisi namens Cortona aufgezeichnet wurden. Es sind liturgische Stücke - aber die Melodien sind sehr stark von der volkstümlichen Tradition der Toskana geprägt. Und in diesem Geist interpretieren wir als Ensemble Canticum Novum dieses Manuskript – im Geist des Platzes vor der Kirche, des Dorfplatzes, des Cafés, wo man ein Bier trinkt, der Bäckerei. Man könnte diese Stücke auch anders aufführen, a capella, sehr feierlich, mit einem sehr spirituellen Charakter. Aber ich empfinde in den Stücken viel stärker diesen volkstümlichen Geist, im Sprachrhythmus, in der Struktur mit Strophen und Refrains. Das lädt dazu ein, mit Percussion zu arbeiten, sehr lebhaft, sehr rhythmisch. Puristen hätten es sicher anders gemacht, aber uns erschien es so richtig, wobei wir der Überlieferung sehr treu bleiben.“ Stella nova’n fra la gente (Lauda Nr. 21) Musik aus dem Laudario di Cortona, aus der Zeit des Heiligen Franz von Assisi. Für Kurzentschlossene: in einer guten Stunde, ab 14 Uhr, ist diese Musik live zu erleben in der Regensburger Minoritenkirche, mit dem Ensemble CanticumNovum. Sie hören das Tafel-Confect auf BR-KLASSIK heute aus Regensburg mit einer Sonderausgabe von den Tagen Alter Musik. Und am Samstag früh war da das belgische Barockorchester Les Muffatti zu Gast. Anlass für meinen Kollegen Volker Sellmann, die neueste CD des Ensembles genauer unter die Lupe zu nehmen. CD-Kostprobe: „Salve Regina” Motetten von Porpora und Hasse, Les Muffatti (autor: Volker Sellmann) Die Pracht barocker Kirchen. Betäubender Duft von Weihrauch, der zu opulenten Fresken emporsteigt und die Betenden in Trance versetzt. Bittere Armut in den engen Gassen, triumphaler Glanz in den fast 200 Gotteshäusern: Noch heute sind Prunk, Elend und Tod untrennbar miteinander verschlungen in Neapel. Hier der Rausch prachtvoller Kunst, dort Camorra und dauerhaft versagende Müllabfuhr. Wie’s mit demMüll um das Jahr 1700 bestellt war, darüber können wir nur mutmaßen. Unbestreitbar ist aber, dass Neapel damals mit über 300.000 Einwohnern nicht nur die drittgrößte Stadt Europas war, sondern auch der musikalische Nabel der Welt. Alles, was Rang und Namen hatte, kam aus Neapel oder traf sich dort. Eine neue Aufnahme des belgischen Barockensembles „Les Muffatti“ entfaltet einen farbenprächtigen Bilderbogen sakraler Musik zu Füßen des Vesuv. Mit makelloser Eleganz feiern „Les Muffatti“ zwei der großen Barockkomponisten Neapels. Nicola Antonio Porpora, seinerzeit der wohl einflussreichste und auch produktivste, führte das Leben eines Abenteurers, eines rastlos Reisenden, eines Intriganten, dessen glanzvoller Stern nach einer großen Karriere ebenso rasch sank, wie er einst aufgegangen war. Zwei Motetten Porporas für Solostimme und Orchester leuchten glutvoll und werden so frisch musiziert, als sei die Tinte der Notenblätter gerade erst trocken geworden. Sie zeigen den Komponisten als einen Theatermann, der mit sicherer Hand aus geistlichen Inhalten bravouröse Opernszenen entwickelt. Die Oper in Neapel zu Porporas Zeit lebte vor allem von der zirzensischen Kunst gefeierter Kastraten. Dementsprechend fordern die Komponisten auch in ihren sakralen Werken als Gesangssolisten souveräne Virtuosen. In dieser Aufnahme glänzt der Countertenor Clint van der Linde mit dramatischer Attacke und sinnlich-dunkel gefärbtem Timbre. Auf ein ganz anderes Pferd zum Gipfel des musikalischen Parnass setzte Johann Adolph Hasse. Geboren wurde er bei Hamburg, ging zum Studium nach Neapel zu Nicola Porpora – und war später einer seiner erbittertsten Konkurrenten. Trumpft Porpora effektvoll auf, wagt Hasse melodische Schlichtheit – und repräsentiert somit den Stilwandel der 1730er Jahre. Musik wird zumMedium, um Gefühle und Seelenregungen unverstellt auszudrücken: Das Zeitalter der Aufklärung und der Empfindsamkeit hat begonnen. Applaus für Canticum Novum in der Minoritenkirche

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