Tage Alter Musik – Programmheft 2005

TAGEALTERMUSIKREGENSBURG MAI2005 einer wirklichen und spannenden Möglichkeit wird. DieMissa Sancti Anthonii Viennensis , wie wir sie nennen werden, ist eine dreistimmige Messe, die die Teile des Ordinariums (ohne das Kyrie, das vermutlich verloren ist) zusammen mit Sätzen des Propriums (Introitus, Graduale, Alleluja, Offertorium) umfasst, die die Texte des Tages vertonen und somit den besonderen Charakter des individuellen Festes kennzeichnen. Die Proprium-Teile benutzen die vorgeschriebenen Gregorianischen Choräle, die flexibel rhythmisiert und in der höchsten Stimme ausgeführt sind und als lange Melodiebögen präsentiert werden, die sich gleichzeitig mit den frei erfundenen tieferen Stimmen entfalten. Daraus resultiert frei fließende Polyphonie von allgemein kontemplativem Charakter, die durch die wunderschön angelegte Wechselwirkung der Gesangslinien und besonders durch ihr rhythmisches Zusammenspiel gestrafft wird, und dadurch Fokussierung und Schwung erhält. Auch die Sätze des Ordinariums sind ebenfalls in einem sich frei entfaltenden Stil konzipiert, der keine offenkundig dramatischen oder deklamatorischen Gesten aufweist, sondern durch die sorgfältige Zusammenfügung der Stimmen mit ihren prägnanten versetzten Rhythmen und ihrer melodischen Unabhängigkeit, sowie die geschickte Kontrolle der Kadenzen, was ihre relative Kraft und vielfältige Platzierung angeht, vorangetrieben wird. Binchois' vierstimmige MotetteNove cantum melodiewurde für ein großartiges zeremonielles Ereignis geschrieben, nämlich die Taufe des neuen männlichen Erben des Herzogtums Burgund im Januar 1431. Sie wurde daher konzipiert und komponiert als dem Anlass angemessenes festliches Ornament und wurde wahrscheinlich uraufgeführt von den vollzähligen Kapellsängern Philipps des Guten, die alle im Text namentlich aufgeführt sind – obwohl es genauso möglich ist, sie – wie im heutigen Konzert – von einer ausgewählten Solistengruppe singen zu lassen. Jedenfalls stand Binchois als Sänger und sicher auch als Leiter im Mittelpunkt der Aufführung. Das Kind sollte auf den Namen Antoine getauft werden, daher die Querverbindung zu der Figur des „Schutzpatrons“ des Heiligen Antonius Abbas (und ebenso zum Heiligen Antonius von Padua, der als ein weitere Namensvetter ebenfalls im Text angesprochen wird). Die Motette basiert auf einem sich wiederholenden isorhythmischen Tenormuster, welches die Grundlage des ganzen Kompositionsgebäudes bildet und somit die Musik, hinweg über die dynamischen Verschiebungen des Metrums, die dazu dienen, die Komposition durch ihre drei miteinander verbundenen, sich ständig entwickelnden Teile hindurch voranzutreiben, fundiert und strukturiert. Eine vollständige Aufführung dieses Werks wurde bisher durch das Fehlen zweier Stimmen im ersten Teil ausgeschlossen; diese sind jetzt rekonstruiert - und in dieser neuen vollständigen Form singen wir das Werk im heutigen Konzert. Seine Gesamtproportionen werden kontrolliert durch Untergliederung und Anlage der Tenormelodie. Die fünfzehn Töne umfassende Melodie dieses cantus firmus sind dem ersten Teil des Kyrie ‘in simplici die’ entnommen, obwohl es ein ziemliches Rätsel bleibt, warum Binchois einen Kyrie-Gesang zu diesem Zweck ausgewählt hat (in unserer Aufführung wurde der Motetten-Tenor mit einem kurzen, frei erfundenen lateinischen dictum von fünfzehn Silben, eine pro Note, zum Lobe des Heiligen Antonius versehen.) Das Werk ist stilistisch geprägt von dem grundlegenden Kontrast zwischen der fließenden, bewegten Musik der stimmenreduzierten Teile und der festeren, sogar monumentalen Form der Teile mit allen vier Stimmen, die um die ausgehaltenen TenorNoten angeordnet sind. Dies kann dazu dienen, uns daran zu erinnern, wie ein fähiger Komponist, während er auf Handwerkerart seine beruflichen Funktionen und Aufgaben erfüllt, zu einer künstlerischen Lösung von erstaunlicher Subtilität und Komplexität gelangen kann, ohne die glänzende Einfachheit der Grundidee zu verschleiern. Domitor Hectoris wurde in einem ganz anderen Stil komponiert. Das Stück besteht aus zwei Teilen und stellt verschiedenartige Duo-Kombinationen der drei Einzelstimmen ebenso heraus wie die volle Struktur der Dreistimmigkeit. Das Aufsteigen und Abfallen der Melodielinien behandelt Binchois mit der für ihn typischen Gewandtheit und Intelligenz, und – wie in vielen seiner Kompositionen – wird auch hier die meditative Klage des Idioms von unverwechselbaren melodischen und rhythmischen Merkmalen durchzogen, die es der Musik erlauben zu wachsen und intensiver zu werden, ohne ihre essentiell poetische und lyrische Ausdrucksweise zu unterminieren. Niemand kam im 15. Jahrhundert Binchois als Melodiker gleich, und dies zeigt sich hier ebenso deutlich wie in seinen Rondeaus und Balladen. Der Text ist ein fein gewobenes Geflecht von Ideen und Bildern um das Konzept des Kreuzes und der Heiligen Lanze und deren symbolischem Platz im Plan der christlichen Erlösung. Obwohl die theologischen und symbolischen Zusammenhänge kompliziert und verzweigt sind, ist das Gedicht selbst von einleuchtender Ausdruckskraft in schöner Einfachheit und Kürze und zeigt in Binchois’ Musik exquisiten Sinn für Ausdrucksfülle. Es ist gut möglich, dass das Rondeau En triomphant de Cruel DueilDufays musikalisches Gedenken an Binchois darstellt, der 1460 starb. Der Text des Stückes zitiert die Titel zweier der bekanntesten Lieder von Binchois, und diese Tatsache zusammen mit Musik von klarer Schönheit und einer gewissen zurückhaltenden Heftigkeit gibt der Komposition einen wirklichen Sinn von Intensität und Abschied. © Philip Weller 31 AUSFÜHRENDE THEBINCHOISCONSORT Mark Chambers Altus William Towers Altus Edwin Simpson Tenor Nick Todd Tenor Matthew Vine Tenor Christopher Watson Tenor PROGRAMM GUILLAUMEDUFAY (?) Missa Sancti Anthonii Viennensis (1397-1474) Introitus: Scitote quoniam mirificavit GLORIA GradualeThronus eius sicut sol Alleluia / Vox de caelo Motette: Domitor Hectoris GILLESBINCHOIS (ca. 1400-1460) CREDO Rondeau: En triomphant de Cruel Dueil GUILLAUMEDUFAY Offertorium: Inclito Anthonio Spiritus Sanctus dixit SANCTUS AGNUS DEI Motette: Nove cantum melodie GILLESBINCHOIS (Rekonstruktion: Philip Weller)

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