Tage Alter Musik – Programmheft 2022

TAGe ALTeR MUSIK ReGenSBURG Konzert 14 1996 gründete er Canticum Novum, das zunächst das ständige ensemble des Theater- und Opernhauses von Saint-Étienne war, mit dem er aber in der Folgezeit innerhalb der Alten Schule für die Schönen Künste von SaintÉtienne in ganz Frankreich und im Ausland Konzerte gab. Außerdem sang er mit Mireille Deguy, Ronald Klekamps, Montserrat Figueras, Jordi Savall, Maria-Christina Kier u.v.a.m.. er war an Produktionen beteiligt u. a. mit Concert Spirituel (Hervé niquet), La Capella Reial de Catalunya (Jordi Savall), Les Musiciens du Louvre (Marc Minowski) und Capriccio Stravagante (Skip Sempé). 1999 gründete er das Festival Musique à Fontmorigny imDepartement Cher und ist seitdem als dessen Künstlerischer Direktor tätig. Im Jahr 2013 gründete er in Saint-Étienne die École d´Oralité, ein Institut für Kulturschaffende und den interkulturellen Austausch. zum Programm: Das Laudario di Cortona Im Jahr 1876 entdeckte der Konservator der Gemeindebibliothek von Cortona, einer der herrlichen Ortschaften auf den Hügeln Umbriens, in einemHängeboden der Bibliothek ein undatiertes mittelalterliches Manuskript, das nach einer paläographischen Untersuchung der Zeit zwischen 1260 und 1297 zugeordnet werden konnte. es enthielt auf 132 Seiten 46 Laudes in italienischer Mundart, was es zu einer der bedeutendsten Laudari (Sammlungen von Laudes oder geistlichen Lobgesängen) macht. Dieses Manuskript gehörte dem Konvent des Franziskanerordens in Cortona, was, wie man sehen wird, durchaus von Bedeutung ist. entstehung und erfolg der Laudari sind Ausdruck der Veränderungen, die das christliche Abendland seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erlebte, und man könnte die Bedeutung dieser Lieder nicht verstehen, ohne sie in den Zusammenhang der vielfältigen und komplexen Umwälzungen in dieser epoche gerade im nördlichen Mittelitalien einzuordnen. Wenn also diese pseudo-liturgischen Lieder das Mittelalter überdauert haben, durch das Konzil von Trient im 16. Jahrhundert wiederbelebt wurden und erst durch den erfolg des Oratorio verschwanden, hängt ihre entfaltung zur vollen Blüte mit den religionssoziologischen Bedingungen im 13. Jahrhundert, wenn nicht im Okzident allgemein, so doch speziell in Umbrien, zusammen. Diese Bedingungen sollten wir deshalb in groben Zügen skizzieren. Die Region Umbrien, das „grüne Herz Italiens“, ganz vom Tiber durchflossen, besteht zu drei Vierteln aus begrünten Hügeln, die sich gegen Osten zu den Ausläufern des Apennin hin höher aufrichten. Auf diesem Hügelrelief entfaltete sich ab dem 11. Jahrhundert eine Bewegung urbaner entwicklung, wie sie ein großer Teil des Okzidents erlebte. Hier manifestierte sie sich in einer Vielzahl von hochgelegenen Dörfern und Städten, die durch die wirtschaftliche entwicklung dank einer ersten „Globalisierung“ im Mittelmeerraum und des damit verbundenen kommerziellen Aufschwungs eines „Bürgertums“ von Handwerkern und Kaufleuten zu nie dagewesenemWachstum und Wohlstand aufblühten. Die Orte waren nicht mehr nur Festungen zur Verteidigung und Bischofssitze: sie wurden zu wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentren, aus denen eine neue Welt aufstieg. Die Händler und Handwerker, die von dem wirtschaftlichen Wachstum profitierten, verliehen bald ihremWillen Ausdruck, auf gleicher Stufe mit demAdel in den beiden Bereichen mitzuwirken, die für sie von besonderem Belang waren: politisch dem der Regierung ihrer Stadt – das ist die Geburt des italienischen Kommunalstaats – und spirituell dem der Sorge um ihr Seelenheil, das durch zunehmenden Umgang mit Geld und die damit verbundene Bereicherung – nach der kirchlichen Doktrin Feinde der Seele und Hemmnisse auf dem Weg ins Paradies – ernsthaft bedroht werden konnten. es ist definitiv die zweite, spirituelle und religiöse Dimension, die hier von größerer Bedeutung ist, denn im Grunde verbindet sie sich mit der ersten (kommunale Selbstverwaltung) durch denselben Anspruch von Laien auf Mitbestimmung ihres eigenen Schicksals. Der Wille dazu manifestiert sich auf vielfältige Weise: Laien bildeten Gemeinderäte, um die Kirchengüter zu verwalten; die Zünfte, diese Berufsverbände, die man in der Moderne Innungen nennen wird und die alle Gewerbetreibenden desselben Bereichs (Metzger, Bäcker, Goldschmiede, Weber…) unter einem Dachverband vereinigten, gründeten religiöse Zweigverbände – Bruderschaften oder Bünde genannt – die sowohl gegenseitige interne Hilfe, Wohltätigkeit und Fürsorge organisierten (zur Ver- Barbara Kusa & Emmanuel Bardon Foto: Bertrand Pichène Canticum Novum (v. l. Gwénaël Bihan, Valérie Dulac, Barbara Kusa, Emmanuel Bardon, Aliocha Regnard) Foto: Bertrand Pichène 67

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