TAGE ALTER MuSIK REGEnSBuRG Mai 2023 die sich der reichen traditionellen kontrapunktischen Texturen der geistlichen Polyphonie bedienen, zeigte Guerrero – etwa in Ego flos campi – auch sein Können in der zunehmend in Mode kommenden Praxis des doppelchörigen Komponierens, bei dem der Text in schnellem Sprechrhythmus deklamiert wird. Zu den Werken mit Texten aus dem Hohelied, die heute Abend auf dem Programm stehen, gehört auch Guerreros eindrucksvolle sechsstimmige Motette Tota pulchra es Maria, in der das biblische Liebeslied (durch den simplen Kniff der Einfügung ihres namens) zu einem Loblied auf die Heilige Jungfrau wird, die „mir das Herz genommen [hat]“: Die ‚Wunde‘ der heiligen Liebe wird in einer wunderbar leisen Passage zu Beginn des zweiten Teils der Motette mit den Worten „vulnerasti cor meum“ dargestellt. Zu den Bildern aus demHohelied, die auf Maria angewandt wurden, gehörte auch das des „verschlossenen Gartens“ („hortus conclusus“), dem Thema der schönen vierstimmigen Motette von Rodrigo de Ceballos, einem Kollegen Guerreros in Sevilla. In der blumigen Sprache des Hohelieds wird die Geliebte hier als Taube („columba“) dargestellt, die von den Sängern am Ende des Werkes aufgefordert wird: „komm und lass dich krönen“ („veni coronaberis“). Ähnliche Bilder werden in Victorias zu Recht berühmter Motette Vidi speciosam in einen umfassenderen musikalischen Kontext gestellt. Er erfreut sich augenscheinlich daran, jedes der lebendigen textlichen Bilder, einschließlich des der aufsteigenden Taube („columbam ascendentem“), musikalisch darzustellen und das Stück dramatisch weiter auszugestalten, indem er verschiedene Gruppierungen von Stimmen gegeneinandersetzt. Cristobal de Morales (ca. 1500-1553) 16
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