Tage Alter Musik – Programmheft 2024

Tage alTer Musik regensburg konzert 9 telalterlicher Musik. nur wenige musikalische Dokumente haben die launen der Zeit überlebt, um uns etwas über die individualität von Frauen und Männern und ihre empfindungen aus dieser vergangenen epoche mitteilen zu können. Dieses musikalische erbe wieder zum leben zu erwecken bedeutet, denen wieder eine stimme zu geben, die das höfische leben zur Quelle ihrer inspiration gemacht haben: gibt es eine geeignetere Methode, die beziehungen zwischen Mann und Frau zu überdenken, als durch die schönheit der Verbindung von Wort und klang? Während gemälde und skulpturen starre Darstellungen bleiben, lässt uns die Musik auf glaubhafte Weise eine für immer untergegangene Welt betreten, indem sie unsere Faszination durch eine ferne Vergangenheit sowie die Frage nach unseren ursprüngen befriedigt. Wir brauchen nur die augen zu schließen und uns den zahlreich in unserem gedächtnis vergrabenen erinnerungen an die romanischen und gotischen Überreste zu überlassen, die durch die Musik wieder in ihrer alten Pracht entstehen. Dieses Programm sieht sich als Triptychon von drei verschiedenen bildern der Frau. Zunächst ist die bella donna die vornehme Dame, wie sie in der höfischen Tradition gepriesen wird. Doch das ist auch der name einer Pflanze, der Tollkirsche, bzw. Belladonna, die – wie vor allem durch die beschreibung Hildegards von bingen aus dem 13. Jahrhundert bekannt – die Fähigkeit besitzt zu heilen oder zu töten. sagt nicht der verschmähte liebhaber in der ballade Ha, Fortune, trop es vers moy grant tort, dass er resigniert den Tod erwartet? Das ist eine passende erwiderung auf den herzzerreißenden canso der Comtessa de Dia, in dem – fait rarissime – eine betrogene, aber immer noch liebende Frau selbst zu Wort kommt. Das bild der Frau verweist auf eine anzahl identifizierbarer, vor allemmythologischer oder allegorischer Charaktere: die Zauberin Medea, die schöne Helena von sparta, Fortuna oder die sirenen. Zu einer Zeit, in der Text und Musik dieselbe Funktion hatten, fand die erzählkunst ihre höchste Vollendung in geschichten, in denen Frauen durch ihre Worte und Taten als individuen dargestellt werden. so erzählt die cantiga „Santa Maria amar“ von der erlösung einer schwangeren Äbtissin durch die Jungfrau Maria; in der geschichte der „schönen“ wird erzählt, wie sie am Fuß ihres Turms sitzt und um ihren geliebten trauert, der gehängt werden soll. Über die Typisierung hinaus sind diese geschichten echte Porträts einer früheren Zeit in ihrer sozialen Wirklichkeit. Die Musik des Ungesagten Wir haben keine gesicherten kenntnisse über das leben in der Vergangenheit, sondern nur eine ahnung davon, wie es gewesen sein könnte; dasselbe gilt für unsere Vorstellung von der klangwelt vergangener Zeiten. Das Mittelalter räumt auf mit unserer gewohnheit als interpreten alter Musik, deren Credo lautet, die rückkehr zu den Quellen sei eine bedingung für die aufführung. Das revival des barock beispielsweise entstand in Opposition zu einem festgelegten standard bei instrumenten, und die ergebnisse klingen für unsere Ohren heute nicht mehr exotisch. instrumente sind das greifbarste und zugänglichste beweismaterial: zum beispiel wird eine Violine, die aus einer der berühmtesten geigenbauwerkstätten des 16. Jahrhunderts in Cremona oder brescia stammt, auch heute noch gespielt, und es ist leicht, sie aus allen blickwinkeln zu studieren, um ihre geheimnisse zu entdecken. aber abgesehen von einigen wenigen ausnahmen kennen wir mittelalterliche instrumente nur von Darstellungen an den Portalen der kathedralen oder aus gemälden alter Meister, und es ist unmöglich, ihr inneres zu durchleuchten. Das Mittelalter bleibt zumindest zum größten Teil jenseits unseres Wissens und wird es wohl immer bleiben, weil die Quellen so bruchstückhaft sind. Die erkenntnisse, die die größten spezialisten zusammengetragen haben, können nur zu streitigkeiten führen, da die interpretation der Quellen so viele Deutungen zulässt, sei es, was die Frage der instrumentalbegleitung betrifft, den rhythmus bei der umfangreichen sammlung weltlichen Melodien oder die rekonstruktion von musica ficta bei den späteren repertoires der ars nova oder ars subtilior aus dem vierzehnten Jahrhundert. Was also sollen wir tun? sollen wir von jedem Versuch einer Wiederherstellung abstand nehmen, weil wir nicht genug wissen? sollen wir uns nüchtern an eine archäologische Vision der kunst halten, da so viele aspekte unklar sind? sollen wir es beispielsweise unterlassen, die ballade Ha, Fortune, trop as vers moy grant tort aufzuführen unter dem Vorwand, dass die Quelle des Textes nur eine einzige stanze umfasst? als interpreten sind wir vielmehr davon überzeugt, dass die Quelle als Material betrachtet werden muss, mit dem zu arbeiten ist. Das bedeutet also zu experimentieren. Der Terminus „interpretation“ erhält dementsprechend seinen vollen sinn und bedeutet, dass wir dem Zuhörer ein Werk anbieten, das unserem Verständnis der Quelle und unserem geschmack entspricht. Hätte unsere interpretation vor sieben-, acht- der neunhundert Jahren bestand gehabt? Wahrscheinlich nicht, und sie sollte auch nur als Plausibilität verstanden werden beziehungsweise als hedonistische Vision einer Welt, die zu fern ist, um ihre klangrealität zu begreifen. authentizität ist für 65

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