erste annäherung ähnelt eher einer philologischen Forschung als einem Vom-blatt-singen. am ende entzieht sich mittelalterliche Musik unseren ganz grundlegenden Fragen; zu wenige künstler haben sie angepackt, und die stücke, die es tatsächlich in das repertoire von konzerten oder Tonaufnahmen geschafft haben, bleiben dünn gesät. Zudem ist das subjektive element so groß, dass extrem unterschiedliche lesarten zustande kommen und ein stück von einem interpreten zum anderen kaum mehr wiederzuerkennen ist. Wer sich für das Mittelalter interessiert, sieht sich einer außergewöhnlich weit gefächerten musikalischen Produktivität gegenüber, deren chronologische spannweite immens ist. im unterschied zur barockzeit, erkennbar durch den gebrauch des generalbasses, oder zur klassik mit ihrer allgegenwärtigen sonatenform sind der Musik von fast vier Jahrhunderten in unserem Programm außer einem höfischen ideal nur wenige elemente gemeinsam. auch die Frage nach der autorschaft bringt unser heutiges Denken, das weitgehend vom strukturalismus beeinflusst ist, aus der Fassung. Wie können wir angesichts einer Myriade von ausschließlich männlichen komponisten, die alle in den rang von „genies“ erhoben wurden, dem Publikum verständlich machen, dass eine anonyme ballade wie Medée fu en amer veritable ein echtes Meisterwerk ist? Musik der zahlen, Musik der Sinne es ist angebracht daran zu erinnern, dass die Musik eine sinnliche kunst war und auch immer sein wird und als solche bei den kirchlichen autoritäten oft verschrien war. Die aufgabe des künstlers besteht darin, ihr diese sinnlichkeit wieder zu geben, wie sie zum beispiel in dem herzzerreißenden canso der Contessa de Dia zum ausdruck kommt oder in jenem lied, in dem Dufay die „schöne“ besingt, die lieber am Fuß des galgens, an dem ihr geliebter hängen wird, begraben sein will als ihn zu überleben. emotion kann aber erst dann ins spiel kommen, wenn die schwierigkeiten, die einer sprache wie der Ars subtilior innewohnen, überwunden sind. noch einmal: Die ballade Medée fu en amer veritable repräsentiert meiner Meinung nach eines der überzeugendsten beispiele: Jede stimme bewegt sich quer durch eine raffinierte struktur innerhalb eines eigenen, abwechslungsreichen rhythmischen systems, das uns daran erinnert, dass die Musik gemäß der mittelalterlichem Tradition neben arithmetik, geometrie und astronomie zum Quadrivium gehörte. Weit davon entfernt, einManierismus zu sein, lässt diese sehr spezielle Ästhetik noch nie gehörte Zusammenklänge hören wie beim Übergang zum refrain Ma dame n´a pas ainsy fait a my, wo sich jede stimme strikt eigenständig parallel zur anderen entwickelt, bis die Zeit fast stehenbleibt. Das nebeneinander von unerhörten klangfarben verdichtet sich wieder und kehrt schließlich zur ausgangsstruktur zurück. ein „geniestreich“ – einausdruck, den dafür sehr viel später Marc-antoine Charpentier verwenden wird – eines höchst begabten anonymen künstlers, der auf einen rhetorischen effekt abzielt. es obliegt dem interpreten, mit der passenden geste die expressive Tragweite zur geltung zu bringen. Wenn wir dadurch die Modernität des ältesten Musikrepertoires „lesbar“ machen, wird dadurch nicht das „dunkle“ Mittelalter selbst „brennender und heller“? Autor: Clément Stagnol Deutsche Fassung: Hannsjörg und Christina Bergmann Tage alTer Musik regensburg Mai 2024 68
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