bewältigen können. Wie jedoch der genauere blick „hinter die kulissen“ zeigt, bilden Virtuosität und skordatur dennoch nur den äußeren, oberflächlichen rahmen dieser sammlung, denn um diese Musik in ihrer ganzen Dimension zu verstehen, ist es notwendig, ihre musikästhetischen Hintergründe zu kennen. Wie alle künste im 17. und 18. Jahrhundert wurde auch die Musik als nachahmende kunst verstanden. nach dem Prinzip der mimesis konnte es sich entweder um die imitation verschiedener naturgeräusche wie tierstimmen, sturm, gewitter, Meereswellen etc., oder aber – weitaus wichtiger – um die nachahmung menschlicher emotionen („affekten“) handeln. Die aufgabe eines jeden komponisten lag darin, diese inhalte mithilfe aller zur Verfügung stehender kompositorischer Mittel wie stil, tonart, takt, Melodie, rhythmus, Harmonie, Dynamik, artikulation, ornamentik und besetzung musikalisch möglichst genau abzubilden; das höchste ziel war es, direkt auf den zuhörer einzuwirken und sein Herz zu berühren. Wie etwa die Sonata rappresentativa (1669) mit imitationen von tierstimmen oder aber die Rosenkranz-Sonaten als musikalisches abbild der lebens- und sterbensgeschichte Jesu Christi belegen, lässt sich dieser zugang vielfach auch in bibers schaffen feststellen; in demselben musikhistorischen kontext ist auch die Harmonia zu verstehen. Die geringstimmige besetzung der Partien sowie der virtuose instrumentalstil weisen dabei auf den sog. kammerstil hin, der prinzipiell als geeignet zum ausdruck subjektiver, inniger inhalte betrachtet wurde, wie auch die instrumentierung für „sanfte“ streichinstrumente wie Violinen, Viola oder die „verliebten” Violen d’amore. in Hinsicht auf die skordatur ist von bedeutung, dass diese technik im 17. und 18. Jahrhundert oft „Verstimmung“ genannt und dementsprechend – oft text ausdeutend in vokalinstrumentalen Werken wie bibers Rosenkranz-Sonaten – zumausdruck seelischer Verstimmung eingesetzt wurde. biber setzte die skordatur als einziger komponist stets konsequent als klangliche Hervorhebung einer bestimmten tonart ein. Ähnlich wie die tonarten damals mit konkreten affektbereichen assoziiert wurden, ließ sich der Charakter der tonart durch die skordatur entschieden verstärken. so spiegelt die skordatur a—e’—a’—d” die „ruhige“ tonart d-Moll (Partia 1) wider, die seltene skordatur h—fis’—h’—d” die „bizzare“ h-Moll (Partia ii), die skordatur a—e’—a’—e” die „brillante“, dennoch auch „klagende“ a-Dur (Partia iii), die skordatur b—es’—b’—es” für Violine bzw. es—b—es’—b’ für Viola da braccio die „pathetische“ es-Dur (Partia iV), g—d’—a’—d” die „zärtliche“ g-Moll (Partia V), oder die stimmung c—g—c’—es’—g’—c” für Violen d’amore die „lieblichtriste“ tonart c-Moll (Partia Vii). Wie sich zeigt, tritt die „Verstimmung“ tatsächlich vorwiegend in Verbindung mit sanften, traurigen oder eher negativ behafteten tonarten auf; nur die Partia Vi mit der üblichen Violinstimmung g—d’—a’—e” ist als einzige in der „von der natur etwas scharfen“ tonart D-Dur gesetzt (die tonartencharakteristiken wurden stark vereinfacht aus Johann Matthesons Das Neu=Eröffnete Orchestre, 1713, übernommen). aber auch dort findet sich im Finale eine ausgedehnte Passage mit unzähligen absteigenden läufen (tiraten) in beiden Violinen, die durch die konsequent absteigende bewegung negative inhalte wie trauer, bestürzung oder klagen andeuten. Des Weiteren lässt sich die in verschiedenen Facetten abgebildete „seelische Verstimmung“ auch anhand des großflächig angewandten kontrastprinzips feststellen, das das wichtigste formbildende Prinzip sowohl im Mikro- als auch Makrokosmos der sammlung darstellt. Diese kontraste, die in der Musik im sinne der musikalisch-rhetorischen Figur antithesis zur Darstellung von überraschendem, plötzlichemaffektwechsel verwendet wurden, kommen in der Harmonia vor allem in den einleitungssätzen sowie dem Finalsatz aus Partia Vi zum Vorschein. es handelt sich hier sowohl um tempowechsel (z. b. Partia i, sonata: Adagio—Presto—Adagio) als auch Dynamikwechsel (piano—forte, Partia ii, Praeludium) oder aber Wechsel in der satzweise (homophon versus imitatorisch; Partia i, Sonata). steht das langsame tempo und/oder piano prinzipiell für traurige, ernsthafte oder sanfte inhalte und schnelles tempo und/oder forte für Freude bzw. aufregung, zeigen die raschen kontraste eben Wechsel zwischen den gemütslagen. es gilt dabei: Je häufiger, überraschender und unregelmäßiger der Wechsel, desto aufgewühlter der affekt (vgl. etwa das Praeludium der Partia ii bzw. der Partia Vii). im Makrokosmos des Werkes ist das die abfolge von kontrastierenden tanzsätzen, die im bereich des kammerstils (tänze zum zuhören, nicht zum tanzen!) außerdem als bedeutsame affektträger fungierten. bezeichnet Johann Mattheson etwa die allemande als „ernsthafte“ Melodie, die gigue als „frisch“ und „hurtig“, die sarabande als „gravitätisch“, die Chaconne als „erhaben“ und „stolz“ oder die Passacaglia als „gravitätisch“ und „delikat“, handelt es sich stets um Hinweise auf einen bestimmten affektbereich. bemerkenswert ist allerdings die Verbindung von schnellen tanzsätzen wie Canario oder dem eher seltenen Amener bzw. Pollicinello und den Moll-tonarten sowie der skordatur, wodurch sich der ursprünglich freudige Charakter in hocherregte affekte wie etwa aufgewühlte unruhe Tage alTer Musik regensburg Juni 2025 106
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