Tage Alter Musik – Almanach 2010

dem Publikum einen prickelnden Rhythmus unter die Haut. Wer waren die Komponisten? Egal, alles 15. und 16. Jahrhundert, Holborne und Schein sind bekannt. Nur bitte mehr von dieser Musik, von diesen Schalmeienklängen im Sinn des Wortes. Die Ohren können gar nicht genug davon bekommen! (Ach ja, Stars, was ist das??) Das Angenehme an Regensburg als Festspielort: die Wege sind kurz und schön. Die Aufführungsorte liegen alle in der historischen Altstadt und dort sind auch die meisten Hotels. Von einer Kirche in die nächste zu wechseln ist ein stadthistorisches Vergnügen. Wen doch Erschöpfung überfällt, der kann auch rasch einen Abstecher zu seinem Hotelbett machen. Restaurants überall am Weg stellen sicher, dass das Kräfte-Schöpfen nicht zur Stressübung wird. Ideale Bedingungen für den vom Programm vorgegebenen intensiven Alte-Musik-Genuss. Mit einer Einschränkung, allerdings: noch nicht alle Kirchenbänke sind so besucherfreundlich glatt gehobelt wie die der Kirche St. Oswald. In der Dominikanerkirche und auch in St. Emmeram plagen immer noch die spitzen Kanten auf der Lehne die Rücken, mit denen man in früheren Zeiten das Kirchenvolk aufmerksam halten wollte. Die Herren Schmid und Hartmann haben daran genauso wenig Schuld wie sie Einfluss darauf haben. Man muss sich eben mit der Schönheit der Räume und den Klängen darin entschädigen. Das Intrumental-Ensemble “Gli Incogniti” um die französische Geigerin Amandine Beyer aber spielte in St. Oswald. Irgendwelche Kanten im Rücken brauchte es auch wirklich nicht, um die Begeisterung für diese “Unbekannten” wachzuhalten. Vivaldi spielten sie, sehr spritzig aber mit Tempo-Maß und Disziplin, und Bach, sehr lebhaft, luftig und trotz der kleinen Besetzung - nur ein Instrument pro Stimme - als Orchestermusik erlebbar. Sieben Konzerte kamen an diesem Nachmittag in St. Oswald zusammen, darunter zwei der Vivaldi-Flötenkonzerte aus op. 10, “La Notte” und “Tempesta di Mare”, von Bach die Violinkonzerte a-Moll und g-Moll und das “große” Cembalo-Konzert d-moll. Warum eigentlich hört man diese Musik eigentlich immer nur an solchen Orten? Klar, die acht “Incogniti” wären in einer Philharmonie verloren. Aber die dort meist residierenden Philharmoniker oder Symphoniker machen um diese grandiose Musik einen Bogen wie der Teufel um das Weihwasser. Aber nicht nur darum. Sie scheuen ja auch Mozart. Für Kinder zu leicht, für Erwachsene zu schwer - daran dürfte es liegen. Schmid und Hartmann scheuten Mozart dieses Jahr jedenfalls nicht und fanden auch die richtigen Leute dafür. Die beherzten Original- Musikerinnen und Musiker von “Anima Eterna” aus Brügge unter ihrem unerschrockenen Leiter Jos van Immerseel. Der hatte ja 2009 in Regensburgs Velodrom den Versuch gezeigt, wie Liszt und Berlioz historisch klingen. Bei Mozart geht das besser, denn da ist einfach mehr Substanz. Ein Komponist, der nie schwächelte. Dem Genius quasi Ton für Ton durfte, ja musste man in Anima Eternas Interpretation der drei großen Symphonien Mozarts, Es-Dur, g-Moll und C-Dur, im klassizistischen Neuhaussaal folgen. Musste, weil die Akustik dort so trocken ist, dass wirklich kein Ton verloren geht - auch kein verstimmter, im Übrigen. Aber egal, in der Kargheit liegt die Tugend und das Fehlen von Hall gab freien Blick auf die Muskeln und Sehnen der Musik. Was für durchmo- dellierte Klang-Athleten stellte Immerseel da aus, welch kraftstrotzenden Gesten und Haltungen. Man konnte Mozarts Ideenfluss praktisch durch den eigenen Kopf strömen fühlen, sah die Motive wie Skulpturen vor sich entstehen, die von ihrem Meister aufein- ander losgelassen werden, damit sie immer neue Formen bilden. Immerseel präsentierte Mozart als unerschöpflichen Verwandler, als unerschöpflichen Genuss. Je näher man ihm auf den Leib rückt, desto faszinierendere Details leuchten auf. Schließlich wollte man Anima Eterna gar nicht mehr gehen lassen. Aber an eine Zugabe war wirklich nicht mehr zu denken. In St. Oswald gab es Händels Oratorium “La Resurrezione” zu hören. Das ist ein hochambitionierter Geniestreich des damals 23- jährigen Komponisten auf seinem Rom-Aufenthalt, als er Kardinälen, Adligen und der Komponisten-Konkurrenz einmal zeigen woll- te, was ein Organist aus Halle aus der Melodienflut Italiens heraus zu holen wusste. In Regensburg gab das tschechische “Collegium 1704” mit einer Gruppe ausgezeichneter Gesangssolisten diesemAnspruch unanfechtbare Bestätigung. Da passte alles, Tempo, Timing, Transparenz. Sowohl Musiker als auch Sänger legten Bravour ohne Ende an den Tag. Es saßen zwar keine römi- schen Kardinäle im Publikum, aber man musizierte mit einem Elan, als sei die Kirche voll davon gewesen. Stiller geht es immer im Reichsaal zu, einem der großen Juwele der Stadt. Der auf seine zurückhaltende Art prachtvolle Saal aus dem 14. Jahrhundert ist ein Erlebnis für sich; ein Ort, an dem bei den “Reichstagen” die höchste Politik Europas verhandelt wurde. Nun gibt es erlesenste Musik und auch die profitiert ungemein von der dezent akzentuierten Eleganz des Raumes. Der Gambist Paolo Pandolfo spielte dort auf seine schon manierierte Art der Expressivität zusammen mit der Cembalistin Mitzi Meyerson Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Bachs Sonate für Gambe und Cembalo wurde, überraschend und doch in dieser Konsequenz schon lange erwartet, als ein Dialog gleichberechtigter Stimmen vorgeführt. Meyerson fand dafür dynamische Stufungen und klangliche Schattierungen, die man einem Cembalo bislang nicht zugetraut hätte. Und dann wieder so ein Fall des “Warum nur hier und nicht auch anderswo”: die fünf Musiker, die in Amsterdam “Musica ad Rhenum” bilden und - mit Flöte, Violine, Gambe, Cello und Cembalo - im Reichssaal hinreißend die Kammermusik von Telemann, Händel oder Couperin spielten. Als Potentat aus feudalen Zeiten würde man jeden von ihnen mit Handkuss engagieren und sie zu jeder Zeit zur Ausübung ihrer wunderbaren Kunst verpflichten. Wie sie spielen, ist intelligent und inspiriert zugleich, ihnen zuzuhören ist ein Vergnügen und ein Gewinn an Erkenntnis. Gleich dazukaufen würde man das verwendete Cembalo von Detmar Hungerberg. Unter den Händen von Michael Borgstede entfaltete es in einer Suite von Händel einen selten farbig und kräftig tönenden Klangzauber. Die Tage Alter Musik geben jedenfalls keine Ruhe zwischen Freitag- und Pfingsmontag-Abend. Man wolle es immer möglich machen, dass alle Besucher auch alle Konzerte hören können, sagte Stephan Schmid in einem Radio-Gespräch. Damit dazwischen auf keinen Fall Originalklang-Entzug aufkommt, gibt es im Salzstadel an der Donaubrücke ein großes Angebot an CDs, darunter natürlich alle aktuellen der anwesenden Künstler, und die traditionelle Ausstellung der Instrumentenbauer. Sachen zum Hören und Selber-Spielen kann man als Souvenir mitnehmen. Auch diese Ausstellung ist eine scheinbar unumstößliche Größe geworden im Programm der Tage Alter Musik Regensburg. Daran wolle man auch nichts ändern, sagen die beiden “Intendanten” in einem Interview. Dieses offene Angebot, dieser Verzicht auf die Einschränkung auf ein Motto sei ihr Rezept für den Erfolg. Es gehe Ihnen einzig darum, hier Künstler herzubringen, die zeigen, wie spannend die Entwicklung der “Alten Musik” nach wie vor ist. Recht haben sie! Genau dieses offene, zwanglose und ungezwungene Konzept ist es, weswegen man sich hier immer aufs neue wohl, angeregt und als Musikliebhaber ernst genommen fühlt. Kein Festival der Eitelkeiten, sondern eines der Erlebnisse. Eines, das lange nach- klingt und neugierig macht aufs nächste. Eines, das einen zutiefst bereichert und tiefgehende Erholung beschert. Eines, das die Stadt Regensburg in bester Erinnerung bewahrt. Erstaunlich, mit wie wenig Mitteln das zu machen ist. Man muss nur genau wis- sen, welche Mittel es sind.

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