Tage Alter Musik – Almanach 2010

„Die Kunst der Fuge“ im neuen Licht Der Samstagabend gehörte noch einmal der Akademie für Alte Musik Berlin , die im Neuhaussaal Johann Sebastian Bachs „Die Kunst der Fuge“ in einer Konzeption von Stephan Mai und Bernhard Forck aufführte. Es ist inzwischen sicherlich unstrittig, dass Bach sein monumentales kontrapunktisches Spätwerk für ein Tasteninstrument komponierte. Nichtsdestotrotz bedarf es einer gehörigen Portion Enthusiasmus für satztechnische Kunststücke und Spitzfindigkeiten, um einer circa anderthalbstündigen Aufführung des Gesamtwerks auf einem Cembalo oder einer Orgel beizuwohnen. Ob Bach überhaupt an eine zyklische Aufführung gedacht hatte, mag zudem dahin gestellt sein. Insofern ist die in Regensburg umgesetzte Idee eine reizvolle Alternative, die sechzehn Fugen und vier Kanons in ver- schiedenen Instrumentalkombinationen zu spielen. Vom Cembalo solo (Raphael Alpermann) über Streichquartett oder Bläserensemble bis hin zum großen Orchester variierten die Besetzungen - im verdunkelten Saal jeweils lichttechnisch hervorgeho- ben. Durch die klangliche Abwechslung und transparente Stimmführung erleichterte die Akademie für Alte Musik den Zugang zur „Kunst der Fuge“, die in ihrer schon Mitte des 18. Jahrhunderts als archaisch angesehenen Struktur als Bachs musikalisches Testament und zugleich als Abgesang auf eine musikgeschichtliche Epoche erfahrbar wurde. Den Pfingstsonntag begrüßte die Capella de la Torre mit Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts in der Minoritenkirche. Das Bläserensemble aus Deutschland erweckt das Repertoire der Stadtpfeiferkapellen, die vom Mittelalter bis zum Barock eine wesentli- che Stütze des Musiklebens in ganz Europa darstellten, zu neuem Leben. Doppelrohrblattinstrumente, wie Schalmei, Dulzian und Pommer bilden den Schwerpunkt des von Katharina Bäuml geleiteten Ensembles; darüber hinaus sorgen Zink (William Dongois), Posaune (Detlev Reimers) und Laute (Johannes Vogt) für ein farbiges Klangspektrum. Perkussionsinstrumente wie Trommeln und Kastagnetten heben den Tanzcharakter dieser Musik hervor. In mehrfacher Hinsicht „exotisch“ war der Auftritt des Ensembles Anima am Nachmittag im historischen Reichssaal. Zum einen stammt das 1989 gegründete Ensemble aus Brasilien, zum anderen bestand das Programm „Donzela Guerreira – Warrior Maiden – Die krie- gerische Jungfrau“ aus einer Mischung traditioneller brasilianischer und europäisch mittelalterlicher Musik. Neudeutsch nennt man Letzteres cross over – die zurzeit weit verbreitete Tendenz, möglichst alles mit allem zu kombinieren, um zu einem mehr oder weni- ger überzeugenden Ergebnis zu kommen. Dem Ensemble Anima gelang eine interessante, weitgehend gelungene Synthese aus Musik des Kaxinauá-Stamms, Gesängen der Hildegard von Bingen, brasilianischen Trommeln, „Rosas das Rosas“ von Alfons X. El Sabio, der mündlich überlieferten „Romance da Donzela Guerreira“, der Estampie Belicha aus dem 14. Jahrhundert u.v.m. Das Ergebnis war eine musikalische „Ethno-Collage“ mit dem Motiv der kriegerischen Jungfrau als zentralem Bindeglied. Trotz (oder gera- de wegen) des – in den mythologischen, historischen und psychoanalytischen Mottenkisten grabenden – sehr ausführlichen Begleittextes des Programmhefts ließ die Deutschlandpremiere von Anima manchen Zuhörer nach gut einer Stunde doch etwas irri- tiert zurück... Frischer Wind für Händel aus Prag Konventioneller, nämlich mit einem Oratorium von Georg Friedrich Händel, wurde das Festival am Abend fortgesetzt. Dennoch gehört die Aufführung von „La Resurrezione“ durch Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 unter der Leitung von Václav Luks zu den glanzvollsten Ereignissen der Tage Alter Musik Regensburg 2010 und wird sicherlich nicht nur mir lange in Erinnerung bleiben. Händel schrieb das Werk während seines Italienaufenthalts. 1708 wurde es unter der Leitung von Arcangelo Corelli in Rom uraufgeführt. „La Resurrezione“ ist ein überschwängliches Jugendwerk, hochvirtuos und mit kontrastreichen Affektwechseln sehr publikumswirksam komponiert. Der junge Maestro Händel misst seine Kräfte auf dem ihm noch neuen Terrain der italienischen Oper (Die war zu jener Zeit in Rom zwar verboten, aber man hatte in Form des geistlichen Oratoriums einen kurzweiligen Ersatz gefunden). Der Chor hat nur eine Nebenrolle inne, während die Solisten mit brillanten Arien geradezu überhäuft werden. Die durchweg selbst noch sehr jungen Musikerinnen und Musiker der Regensburger Aufführung nahmen sich des Händelschen Jugendwerks mit viel Elan und Spielfreude an. Hana Blazíková rang als mit virtuosen Koloraturen gewappneter Engel mit Lucifero, der von Tobias Berndt mit überzeugend dunklem Bass gegeben wurde. Katerina Kneziková (Sopran) war kurzfristig für die erkrankte Céline Scheen als Maddalena eingesprungen und konnte in dieser tragenden Hauptrolle vollauf überzeugen, etwa in der anrührenden Trauer der Arie „Ferma l’ali, e sui miei lumi non volar“. Ihr ebenbürtig zur Seite stand Jana Levicová (Alt) als Cleofe. Jaroslav Brezina sang die Partie des San Giovanni mit gleichfalls makellosem Tenor. Das Prager Collegium 1704 , nach 2003 zum zweiten Mal bei den Tagen Alter Musik zu Gast, legte Zeugnis davon ab, dass es inzwischen zu Recht zu den besten europäischen Barockorchestern zählt. Das Publikum feierte die herausragenden Leistungen der Akteure mit lang anhaltenden stehenden Ovationen; Solisten, Chor und Orchester bedankten sich mit einem Da Capo des Schlusschores. Mit Musik portugiesischer Komponisten des Frühbarock begann der letzte Festivaltag. A Corte Musical aus der Schweiz präsentierte im historischen Reichssaal das außergewöhnliche Repertoire, in dem sich polyphone Kunstmusik und Folklore der iberischen Halbinsel zu einer faszinierenden Synthese vereinen. Das musikalische Spektrum reichte von melancholischen Gesängen, wie Padre José de Anchietas „Mira el Malo“ bis hin zu tänzerischen Variationen über die allseits bekannten „Folias“ von Manuel Machado. Auch die diesjährigen Tage Alter Musik Regensburg boten wieder eine Fülle an interessanten Konzertangeboten, wie zum Beispiel die beiden Nachtkonzerte von Graindelavoix mit Musik des Marienkults aus dem frühen 16. Jahrhundert und vom Ensemble Plus Ultra , das in bester englischer Vokaltradition zusammen mit His Majestys Sagbutts and Cornetts die „Missa Super flumina Babylonis“ von Francisco Guerrero aufführte. Tasto solo aus Spanien widmete sich der deutschen spätmittelalterlichen Musik für Tasteninstrumente und die renommierte niederländische Formation Musica ad Rhenum demonstrierte, dass man auch ohne Werke von Johann Sebastian Bach ein exzellentes Konzert mit hochkarätiger Kammermusik des 18. Jahrhunderts gestalten kann. Jed Wentz (Traversflöte), Igor Ruhadze (Violine), Cassandra Luckhardt (Viola da Gamba), Job ter Haar (Violoncello) und Michael Borgstede (Cembalo) legten mit nuancenreicher Tongestaltung, perfekter Abstimmung und kontrollierter Klangschönheit ein überzeugendes Plädoyer für Georg Philipp Telemann, Georg Friedrich Händel, Michel Blavet und François Couperin ab. Mit Musik der Wiener Klassik hatten die Tage Alter Musik begonnen, mit den späten Sinfonien von Wolfgang Amadeus Mozart schloss sich am Montagabend der Konzertreigen. Anima Eterna Brugge , unter der Leitung seines Dirigenten Jos van Immerseel inzwischen quasi ein Stammgast in Regensburg, nahm sich der beliebten Sinfonien Nr. 39 Es-Dur und Nr. 40 g-Moll lustvoll musizierend an. Mit stürmischen Tempi, transparentem, aber nie trockenem Spiel, dem nur gelegentlich die Präzision fehlte, demonstrierten die Belgier einmal mehr, dass man Altbekanntem mit Originalinstrumenten und in historischer Aufführungspraxis so manche neue, reizvolle Facette abgewinnen kann. Zudem ist der klassizistische Neuhaussaal im Regensburger Stadttheater ein nahezu idealer Raum für diese Musik (wenngleich dort nun niemand mehr frieren musste...). Nach der Pause brannte Anima Eterna Brugge in Gestalt der „Jupiter“-Sinfonie Nr. 41 C-Dur ein wahres kontrapunktisches Feuerwerk ab, ehe die Tage Alter Musik Regensburg um 22.15 Uhr mit stürmischem Applaus für alle Akteure zu Ende gingen.

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=