Tage Alter Musik – Almanach 2012

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Regens- burg und mit der Kulturmetropole ein Teil Bayerns, Deutschlands und anderer Länder blickte auf ein anderes musikali- sches Ereignis, das sicher nachhaltiger, reicher und substantieller gewesen ist als der Eurovision Song Contest in der aserbaidschanischen Hauptstadt. Die Ta- ge Alter Musik Regensburg (TAM) haben zwar erst 28 Jahre auf dem Buckel, gegenüber 57 des Musikwettbewerbs, da- mit aber bereits eine Tradition geschaf- fen, die in ihrer Rückwärtsgewandtheit lebendiger und aufregender erscheint als andere Musikszenen. „Die machen alle Krach hier!“ Manch einer mag naserümpfend ein- wenden, ein Vergleich dieser beiden Er- eignisse und Szenen sei gar nicht mög- lich. Dagegen lässt sich vorbringen, dass die australische „La Compañia – The Re- naissance Band“ am Samstag in der Mi- noritenkirche Popmusik des 16. Jahr- hunderts spielte. Die acht Musiker mit Sängerin Siobhan Stagg aus Melbourne stellten Lieder und Instrumentalstücke der Piffari und Ministriles (Bläsergrup- pen) aus Spanien und Italien vor. Schon auf dem Weg durch die belebte Altstadt konnte man sich auf höchst kuriose Weise auf die von Glauben und Aber- glauben beherrschte Welt des Mittel- alters einstellen. Nahe dem Neupfarr- platz „schwebte“ ein mittelalterlich ge- kleideter Gaukler über einem Teppich scheinbar in der Luft. Ein Stück weiter sangen Straßenmusikanten italienische Volkslieder und populäre Arien neueren Datums – nicht schön, aber laut. So ein- gestimmt, wirkten der dumpfe Klang der Trommel und der historischen Blas- instrumente Zink, Pommer und Posaune im akustisch schwierigen Kirchenschiff wie das Normalste auf der Welt. Mit schöner Stimme sang Stagg von Liebe, Verführung und Verboten – lateinisch. Von der mehrfach ausgezeichneten Sän- gerin hätte man sich hie und da etwas differenziertere Akzente gewünscht. Nach der begeistert aufgenommenen Aufführung gaben die „Aussies“ wenig später vor der Buchhandlung am Haid- platz ein Freikonzert. Offen und zwang- los, fand es beim zufälligen Zuhörerkreis ebenso viel Anklang wie vorher beim Fachpublikum. Nur ein weiter hinten vorbeilaufender Tourist erklärte seiner Familie: „Da sind so Musiktage, die ma- chen alle Krach hier!“. Vielleicht hätte man dem Musikba- nausen eine Freikarte fürs erste Nacht- konzert in der Schottenkirche mit dem wunderbaren Vokalensemble „Gallican- tus“ schenken sollen. Die sieben Englän- der, darunter zwei Countertenöre, prä- sentierten unter dem Titel „The word unspoken“ Motetten englischer Kompo- nisten. Trotz grausamer Verfolgung durch die anglikanischen Protestanten hatten diese am katholischen Glauben festgehalten und erzählten in bewegen- den Versen vom Leid und den inneren und äußeren Kämpfen der oft im Unter- grund lebenden Gläubigen. Perfekt into- niert und mit schier überirdischer Klangbalance, die mit der Architektur eine Einheit zu bilden schien, gaben die Sänger Trauer, Schmerz und der Un- erschütterlichkeit des Glaubens bewe- genden Ausdruck. In der vokalen In- brunst, die auch feinste dynamische Re- gungen erlaubte, geriet dieses Konzert unter Leitung des Baritons Gabriel Crouch zu einem der eindringlichsten Erlebnisse des Festivals. Dabei kommt der kargen, klaren Architektur der roma- nischen Schottenkirche große Bedeu- tung zu, korrespondierte sie doch vor- züglichmit demGesang. Es ist „fast wie eine Sucht“ Überhaupt spielt die Auswahl der Auf- führungsorte, ebenso wie des hochwerti- gen Programms, eine besondere Rolle. Diese – meist Kirchenräume – machen die Regensburger Tage Alter Musik ziemlich einzigartig. BR-Jazzredakteur Roland Spiegel, seit vielen Jahren begeis- terter und regelmäßiger Besucher der TAM, hat gehört, dass in einer holländi- schen Stadt ähnlich exzellente akusti- sche und räumliche Bedingungen herr- schen würden, ohne es selbst erlebt zu Die Popmusik des 16. Jah RUNDGANG ImVergleich zum Eurovision Song Contest in Baku war es ein Spektakel der ganz anderen Art: In Regens- burg traf sich eine höchst le- bendige Alte-Musik-Szene. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON MICHAEL SCHEINER, MZ Was zu Zeiten der Renaissance populäre Musik war, machte bei den Tagen Alter Musik zum Beispiel das australische Ensemble Wer bei Bach den vollen Klang eines Streichorchesters im Ohr hatte, der musste beim Auftritt der Geigerin Ra- chel Podger und dem von ihr geleiteten Ensemble Brecon Baroque umdenken. Die Wiedergabe der Violinkonzerte a- Moll, A-Dur und E-Dur sowie des Cem- balokonzertes d-Moll von Bach und eines Konzertes für drei Violinen von Telemann war geprägt von intimer Ge- lassenheit und dem kammermusikali- schen, bisweilen eine Spur zu nüchter- nem Spiel der Instrumentalisten. Dabei wurden keine Strukturen verwischt und es entstand besonders in der Interpreta- tion des Cembalokonzertes durch Mar- cin Swiatkiewicz, der mit großem Elan seinen Solopart spielte, ein detailreiches Bild der Partitur. Rachel Podger musi- zierte ihre Soloparts bei aller Virtuosität nie auftrumpfend. Mit Bedacht und einem Schuss Herbheit produzierte sie sonore Töne, die auch in der Höhe blitz- sauber waren. Sie verstand sich – auch bei Telemann, wo die Solisten im Schlusssatz für tänzerische Beschleuni- gung sorgten – eher als primus inter pa- res. Die Übereinstimmung zwischen kompositorischer und darstellerischer Intention war ihr Ziel, dem sie zustrebte, auch wenn im Bachschen a-Moll-Kon- zert aus einem Allegro assai eher ein Al- legro energico wurde und zeitweise das Ensemble verdrängte. Berührend gelan- gen den Musikern durchwegs die langsa- men Sätze, vor allem das mit sprechen- der Phrasierung und Tiefgang gespielte Adagio des E-Dur-Konzertes, BWV 1042. Intime Gelassenheit Ensemble Brecon Baroque ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON ULRICH ALBERTS, MZ Um einen neugierig machenden Namen für ihre Programme sind Alte-Musik-En- sembles selten verlegen. Die englische Vokalgruppe „Gallicantus“ setzte beim Titel ihres Nachtkonzerts („The word un- spoken – Renaissancemusik im Unter- grund“) auf den Reiz des Verbotenen. Ganz so brisant war die Musik katholi- scher Komponisten, die im protestanti- schen England um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wirkten oder das Exil vorzogen, dann doch nicht; dass die- se Musik in St. Jakob erklang, in jener Klosterkirche also, wo erst irische, dann schottische Mönche ihren Glauben leb- ten, bildete einen stimmigen Rahmen. Passend auch der interpretatorische Zugriff des Männersextetts, das weniger auf Homogenität und Verschmelzung denn darauf setzte, die einzelnen Stimm- charaktere heraustreten zu lassen. Als würden Individuen ihren Glauben auch gegen konfessionelle Widerstände he- raussingen, so wirkten etwa in Thomas Tallis’ „Loquebantur in variis linguis“ viele Passagen. Hier, wie auch in den schön ausgekosteten Lautmalereien von William Byrds „Vigilate“ folgte man den Herren gerne auf ihren etwas eigenwilli- gen Pfaden, an anderen Stellen dagegen wirkte der Zugriff beliebig. Hinzu ka- men Flüchtigkeiten bei Durchgangsno- ten, kleinere und größere Trübungen der Intonation und Formschwankungen bei den beiden Countertenören. Schöne Piano-Passagen und Schwell- töne entschädigten für den leicht dispa- raten Eindruck, den Gallicantus bei ihremDeutschland-Debüt hinterließen. Eigenwillige Pfade Männersextett Gallicantus ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON JUAN MARTIN KOCH, MZ Wozu bedarf es eines Dirigenten? Die „Akademie für Alte Musik“, die zum wiederholten Male bei den Regensbur- ger Tagen Alter Musik gastiert, verzich- tet auf ihn, als sie mit Franz Schuberts „Unvollendeter“ den nunmehr bereits achtundzwanzigsten Jahrgang des Festi- vals in der Basilika St. Emmeram eröff- net. Es genügt, wenn nach historischer Manier Konzertmeister Georg Kallweit vom Geigenpult aus Einsätze gibt oder notfalls einmal, bei jenen langen Halte- tönen der Hörner, welche die Brücke vom ersten zum zweiten Thema bilden, mit der Hand den Takt markiert. Diesen äußeren Bedingungen korrespondiert eine Interpretation, die auf agogische Zu- taten verzichtet und zumal im unge- wohnt zügig musizierten zweiten Satz betont tänzerisch-beschwingt wirkt. Im Kopfsatz des Werkes gelingt es dem Ber- liner Orchester, in den Fortissimoaus- brüchen der Partitur wohl dramatisch und erregt zu musizieren, ohne jedoch jemals den Eindruck von romantischem Pathos zu erwecken. Hauptwerk des Abends ist danach Schuberts As-Dur-Messe. Hier freilich be- darf es der Kraft eines Dirigenten, um die Massen der Ausführenden zu koordinie- ren. Domkapellmeister Roland Büchner gelingt es mit energischen Gesten nicht nur, Instrumentalisten und Sänger zum nahtlos ineinandergreifenden Ensemble zusammenzuschweißen, sondern auch die stilistisch disparaten Elemente von Schuberts Musik zum Ganzen zu fügen, in der vokaler Stile antico, klassische Sinfonik und eigenwillig zukunftsstre- bende Harmonik einander auf oft engem Raum begegnen. Am Ende gilt der Jubel des Publikums allen Beteiligten, darunter dem sehr homogen auftretenden Solistenquartett mit Deborah York (Sopran), Dorothée Rabsch (Alt), Florian Neubauer (Tenor) und Christof Hartkopf (Bass), welches von Schubert meist nur blockartig dem großen Chor entgegengestellt wird, so dass den Künstlern wenig Raum zu indi- vidueller Profilierung bleibt. Schön ist es, dass in den männlichen Partien Sän- ger zum Zuge kommen, welche der Ta- lentschmiede der Regensburger Dom- spatzen entstammen. Die sängerische Hauptlast der Aufführung liegt jedoch bei ihren heutigen Nachfolgern, welche vom Auditorium für ihre Leistung mit Recht besonders gefeiert werden. Wendig zeigt sich der Domspatzen- Chor den Anforderungen von Schuberts Messe gewachsen. Klar ist die Diktion der jungen Sänger, besonders dort, wo wie etwa im Credo die Textrezitation im Vordergrund steht. Ebenso sicher bewe- gen sie sich auf abseits führenden har- monischen Pfaden, wenn sie den poly- phon verschlungenen Linien der von Schubert bewusst ambitioniert kompo- nierten, ausgedehnten „Cum sancto spiritu“-Fuge folgen. Aber auch das Lyri- sche kommt nicht zu kurz: etwa im empfindsam tönenden „Dona nobis pa- cem“ mit seinen sanften, runden Harmo- nien, in denen das Werk ganz friedvoll verklingt. Ohne Pathos Regensburger Domspatzen & die Akademie für Alte Musik Berlin ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON GERHARD DIETEL, MZ Hauptwerk des Abends war Franz Schu- berts As-Dur-Messe.

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