Tage Alter Musik – Almanach 2012

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In den einschlägigen Codices wurden sie fündig, jede Menge Lieder, Chansons, Sequenzen usw. gibt es zu diesem The- ma, 20 davon (inklusive Rekonstruk- tionen) brachten sie in die Minoriten- kirche mit, geordnet in vier Abteilun- gen: Die ersten beiden waren mit „Keuschheit“ und „Versuchung“ über- schrieben, da geht’s also um Theorie und Praxis. Es folgten Trauerlieder über verstorbene Schwestern, zu guter Letzt Klagelieder über das eigene Schicksal, eingesperrt zu sein, über die verlorenen Schönheiten der Welt; nicht jede Nonne nahm freiwillig den Schleier. Auch wenn es zuweilen um Unerquickliches ging, den drei Sänge- rinnen und den beiden Instrumenta- listen (Vielle, Laute, Gusli) zuzuhören, war die reine Freude: glockenrein, ele- gant, aber emotional wurde musiziert, eine gute Stunde zu Herzen gehender, doch vergnüglicher Balsam. Vergnüglicher Balsam CODICES Das Ensemble Pereg- rina aus der Schweiz er- forscht Nonnenliebe und -le- ben imMittelalter. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON RANDOLF JESCHEK, MZ Emotional: Das Ensemble Peregrina So voll war die Dominikanerkirche noch selten. Das hatte drei gute Grün- de: 1. Wim Becu, 2. Harry van der Kamp, 3. Giovanni Gabrieli (1557 bis 1612). Der erste ein legendärer Posau- nist mit seinem Ensemble „Oltremon- tano“ aus Belgien, auf XXL-Größe auf- gestockt: Zwei Zinken, sechs Posau- nen, zwei Violinen, zwei Orgeln. Der zweite ein legendärer Sänger mit sei- nem Ensemble „Gesualdo Consort Amsterdam“: Ein Sopran, ein Altus, drei Tenöre und ein Bass, der Meister selber. Und der dritte schließlich ein legen- därer Komponist, der ist zwar schon 400 Jahre tot, aber seine Musik ist nach wie vor lebendig, frisch, mitreißend. Und die Dominikanerkirche ist zwar nicht San Marco, hat keine so schönen Emporen, aber Gabrielis Mehrchörig- keit kommt auch hier trotz akusti- scher Tücken ganz gut zur Geltung. Der Einstieg ins Nachtkonzert war eine Hommage an Gabrielis Hauptbe- ruf als Organist an San Marco, eine prachtvolle Orgeltoccata, mitreißend gespielt. Danach in lockerer Folge Vo- kalsätze, sechs- und mehrstimmig, nach alter kontrapunktischer Art, aber auch im modernen Stil, konzertant- zweichörig, mit und ohne Unterstüt- zung von Instrumenten, in mannigfal- tigen Vokal-Instrumental-Kombina- tionen. Dazu Instrumentales, Sonaten und Canzonen, teils schon mit idioma- tischer Schreibweise, mit virtuosen Violin-Oberstimmen. Es sind die Raumwirkungen, die Experimentier- freudigkeit, die Vielfalt im Detail, die diese Übergangszeit zum Barock mit ihrer Aufbruchsstimmung so unver- braucht erscheinen lassen. Und natür- lich auch die disziplinierte und doch sehr lebendige und sinnliche Art der Sänger und Musiker, diese hoch diffe- renzierte Musik in Form prächtiger Klangskulpturen in den Raum zu stel- len. Dementsprechend großer Beifall. Diszipliniert und doch sinnlich KOMPONIST Giovanni Gabrieli führt Oltremontano und Ge- sualdo Consort zusammen. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON RANDOLF JESCHEK, MZ Oltremontano aus Belgien begeister- ten in der Dominikanerkirche. REGENSBURG. Wenn wir heute Bach sa- gen, dann meinen wir Johann Sebas- tian. Früher war das anders. Nach Se- bastians Tod wurde sehr schnell Carl Philipp Emanuel „der Bach“, der zweit- älteste Sohn, Jurist, 30 Jahre Kammer- cembalist bei Friedrich II. in Berlin, später 20 Jahre Musikdirektor in Ham- burg. Heute gilt er als einer der innova- tivsten Komponisten der Zeit nach 1740. Fein getupft, dann lang gezogen Ausgehend von einer „gebundenen“ und „gearbeiteten Schreibart“ kommt er zu einem „freyen“, galanten und empfindsamen Stil, ist maßgeblich be- teiligt an der Entwicklung zur Klassik. Die Holland Baroque Society wurde in Regensburg geleitet von den beiden Solisten Alexis Kossenco, Traversflöte, und Hidemi Suzuki, Violoncello. Jeder spielte ein Solokonzert aus den Berli- ner Jahren, von 1731 bzw. um 1750. Der wilde Sturm-und-Drang-Kompo- nist wurde da hörbar: extreme Gegen- sätze, maximale dynamische Kontras- te, aufbrausende, mit Biss gespielte Passagen im Orchester neben getrage- nen Cellotönen, fein Getupftes neben lang gezogenen Kantilenen. Hidemi Suzuki, Zen in der Kunst des Cellospie- lens praktizierend, setzte auf all diese Fantastereien noch eine freche Kadenz drauf. Kossenco entwickelte traum- hafte Linien, das Orchester reagierte fein und differenziert. Gewaltiges Fe- gen und unglaubliches Tempo im drit- ten Satz riss das Publikum zu Begeiste- rungsstürmen hin. Man wagte viel und gewann, keiner spielte auf Sicher- heit oder abgezirkelt, jeder einzelne mit höchstem Einsatz. Orchester und Solisten lieferten sich heftige Debat- ten, knappe Themen kontrastierten mit sprunghaften harmonischen Ab- folgen: musikalische Feuerwerke wur- den abgebrannt. Fetzig und tänzerisch, süß und zart In der Triosonate für Traverse, Violine und bc, relativ traditionell gemacht, ging es im Largo sanft zu, eine freie Ka- denz beider Instrumente verflüchtigte sich fast ins Nichts. Baron Gottfried van Swieten gab in den 1770er Jahren Streichersinfonien bei Carl Philipp Emanuel Bach in Auftrag, in denen Bach sich „ganz gehen lassen sollte, ohne auf die Schwierigkeiten Rück- sicht zu nehmen“. Der originelle, küh- ne Gang der Ideen dieser Sinfonien (Wq 182) wird von Zeitgenossen ge- lobt. Bach hat hier die exzentrische Tonsprache seiner Klavierwerke erst- mals auf Orchester übertragen: aus- ufernde Unisoni, unterbrochene Melo- dik, harsche Kontraste, Unkonventio- nelles, Surprisen. Mit überschäumen- dem Esprit ging das junge Ensemble diese Werke an, warmer Samtklang stand neben aggressiv gesetzten Ak- zenten, fetzig und tänzerisch ging es zu, aber auch süß und zart. Die Holland Baroque Society ver- fügt über unzählige Möglichkeiten der Klangschattierung, hat überragende technische Kapazitäten und unglaub- liche Frische. Inspirierend, intensiv und voller Überraschungen war dieses Konzert, Überraschungen, die keine aufgesetzten Gags waren, sondern aus der Musik selbst kamen. Inspirierend und voller Überraschungen BAROCKORCHESTER Die Holland Baroque Society entzündete in der Kirche St. Oswald ein musikalisches Feuerwerk. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON CLAUDIA BÖCKEL, MZ Die Holland Baroque Society, vorne am Violoncello Hidemi Suzuki, präsentiert ausschließlich Werke von Carl Philipp Emanuel Bach. Alle Fotos: altrofoto.de ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● BEI UNS IM NETZ Kritiken zu den 28. Regensburger „Tagen Alter Musik“ finden Sie in einer ausführlicheren Fassung im Internet unter ➤ www.mittelbayerische.de/kultur ● ➲ Lesen Sie mehr! ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● DIE HOLLAND BAROQUE SOCIETY ➤ Das Barockorchester wurde 2006 gegründet.Mittlerweile sind drei CD-Ein- spielungen beim Label Channel Classics erschienen. Das Ensemble verzichtet konsequent auf einen festen Dirigenten. ➤ Die jungen Niederländer arbeiten stattdessen in Projekten mit interessan- ten und experimentierfreudigen Musi- kern zusammen, denen sie die künstleri- sche Leitung übertragen. ➤ Beim Regensburg-Debüt leiteten der französische Flötist Alexis Kossenko und der japanische Meistercellist Hidemi Suzuki das Konzert. Le Concert Brisé, 1990 vom Zinkvirtu- osen William Dongois gegründet, spielte im Reichssaal eine Art „Broken Consort“. Doppelt „broken“, denn zum einen sind Mitglieder verschiedener Instrumentenfamilien im Einsatz, zum anderen waren Instrumente, de- ren beste Kammermusikzeiten um 1700 schon vorbei waren (Zink, Posau- ne), einträchtig mit damals angesagten wie Violine und Oboe kombiniert. In bester barocker Manier hatte man vor- wiegend Vokal- und Orgelmusik von Palestrina und Sweelinck bis Tele- mann und Bach bearbeitet; also auch zeitlich-stilistisch eine respektable Bandbreite. All das lässt ein abwechs- lungsreiches, musizierfreudiges Pro- gramm erwarten, doch wie so oft: Über längere Zeit die gleiche Buntheit bringt Langeweile. Dabei spielen sie ganz ausgezeich- net, die Damen und Herren um den Zinkvirtuosen Dongois, sehr feinsin- nig, klangschön, sauber, gut abge- stimmt, meist sehr langsam, das auch. Da gerät Jannequins „Bataille“ schon mal zur gemütlichen Wohnzimmer- balgerei. Weiterhin: Orgelsachen zu instrumentieren, ist problematisch, die Gefahr des Zerbröselns lauert im- mer und überall. Und eine Telemann- Kantate als Duo für Orgel und Cemba- lo ist nur noch albern. Da hatte das Ky- rie aus Bachs h-Moll-Messe immerhin was: es war eine sanfte Versenkungs- übung und wieder einmal der Beweis, dass Bach durch keine Bearbeitung tot- zukriegen ist. In bester barocker Manier BANDBREITE Das Ensemble Le Concert Brisé aus Frankreich spielt mit Instrumenten aus verschiedenen Familien. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON RANDOLF JESCHEK, MZ

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