Tage Alter Musik – Almanach 2012

also dieses schlangenförmige und ziemlich unhandliche Instrument, das Michel Godard hier in zärtlicher Schönheit spielte, gehört zur Familie der Zinken. Die Zinken wiederum haben nichts mit großen Nasen zu tun, sondern sind historische Blas-instrumente mit Grifflöchern wie bei einer Flöte und mit Kesselmundstück wie bei einer Trompete. Der Serpent ist die besonders gewundene Ausgabe davon – daneben gibt es unterschiedlich große und krumme Exemplare. In der Renaissance waren Zinken – die auf Italienisch viel lieblicher Cornetto genannt werden, und so findet man sie auf vielen CD-Hüllen – in der Renaissance waren diese guten Stücke äußerst verbreitete Solo- Instrumente. Und zwar, weil sie so nah an der menschlichen Stimme waren, wie man damals fand. Hört man heute etwa den französischen Musiker William Dongois einen Zink spielen – und den eben gehörten Michel Godard den Serpent -, dann leuchtet diese Einordnung sofort ein. Und damit sind wir wieder bei den Tagen Alter Musik in Regensburg, wo regelmäßig so herausragende Musiker wie Dongois zu erleben sind. Ich habe von William Dongois hier ein Stück von einer CD ausgewählt, die ich besonders ergreifend finde – und die gerade auch Jazzfans interessieren dürfte. „Style fantastique“ heißt sie. Auf dieser CD huldigt Dongois einem freien Musizierstil, der im Italien der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufkam, dem sogenannten „Stylus fantasticus“ , also dem fantastischen Stil. Vor allem Stücke des italienischen Geigers und Komponisten Giovanni Pandolfi-Mealli interpretiert er da. Frei fließend, mit einem funkelnden Reichtum an spontan erscheinenden Momenten, kommen diese Stücke daher, weil sie einst aus Improvisationen heraus entstanden. Und für die Ohren von Jazz-Hörern ist nicht nur das an der nun folgenden Aufnahme interessant, sondern auch, dass Dongois und seine beiden Begleiter dieses Stück unter Live- Bedingungen aufgenommen haben. Denn zum einen wollte Dongois dadurch den spontanen Charakter der Musik unterstreichen. Und zum anderen findet er, dass die Möglichkeit von Schnitten das Wesen von Musik verfälsche: Die Arithmetik verdränge da die Lebendigkeit, so seine These. Hören Sie hier also William Dongois mit der Sonata La Melana von Giovanni Pandolfi-Mealli – und danach wieder live aufge- nommenen Jazz. Musik: William Dongois: Sonata La Melana. Jim Hall: St. Thomas. „St. Thomas“, ein sogenannter Calypso, geschrieben von Saxophonist Sonny Rollins, und hier gespielt vom Trio des Gitarristen Jim Hall, live in Murnau im Jahr 2007. Davor der Zink-Virtuose William Dongois mit der Sonata La Melana von Giovanni Pandolfi-Mealli aus dem 17. Jahrhundert. Ich erwähnte es, aber vielleicht haben Sie eben erst eingeschaltet: Dongois und seine beiden Begleiter haben dieses Stück – und ihre ganze CD „style fantastique“ – live eingespielt. Und an der Musik des viel zu wenig bekannten Giovanni Pandolfo-Mealli schätzen sie besonders ihren Ausdruck von Spontaneität. Dass Renaissance- und Barockmusik diesen Gestus besonders stark haben, weil in diesen Epochen die Improvisation, also die spontane Erfindung von Musik, eine wichtige Rolle spielten – das kann man jedes Jahr bei den Tagen Alter Musik immer wieder beobachten und genie- ßen. Ich schätze dieses Festival sehr. Zum einen, weil es eine enorm hohe Qualität in wunderschönen Räumen bietet. Zum anderen aber auch, weil ich dort als Jazzfan eine Musik erleben kann, in der mir Vieles vertraut vorkommt, auch wenn sie ganz anders klingt als der Jazz. Aber eine musikalische Haltung, wie William Dongois sie vertritt, ist sehr nah am Jazz: das Hervorheben des kreativen Augenblicks etwa, indem er die Echtheit von Live-Aufnahmen vielfach geschnittenen Studioproduktionen vorzieht. Und dann: die Lebendigkeit, die seine Musik atmet, indem er versucht, in seinen Interpretationen spürbar zu machen, dass bestimmte Stücke eben aus Improvisationen heraus entstanden sind. Es ist ein wichtiges musikalisches Gesetz, dass man in Interpretationen das Papier nicht mehr rascheln hören soll, auf dem Kompositionen geschrieben oder gedruckt wurden. Aber so wenig spürbares Papier wie bei Dongois – und jetzt gleich auch wieder bei Geigerin Rachel Podger – ist ganz selten. Hier zunächst noch ein iberisches Stück mit der Gruppe La Compañia, wiederum ein anonymes Werk aus dem 16. Jahrhundert, gesungen von der Sopranistin Siobhan Stagg: „Wenn du aus dem Dorf zurückkommst, dann sag mir, ob du Pascoala gesehen hast, die ein böses Schicksal von mir fernhält“ – so der Inhalt in Kurzform. Danach Trompeter Chet Baker mit der Huldigung an eine wieder andere Dame: „My funny Valentine“, erneut in der Aufnahme mit Baritonsaxophonist Gerry Mulligan vor 50 Jahren und wenigen Tagen. Musik: La Compañia: Dispues vienes delhaldea. Chet Baker: My funny Valentine. Rachel Podger: Allegro assai. 2:28. Geigerin Rachel Podger und ihr Brecon Baroque Ensemble mit dem Schluss-Satz aus Johann Sebastian Bachs E-Dur-Violinkonzert, Bachwerke-Verzeichnis 1042. Davor Trompeter Chet Baker im Quartett von Gerry Mulligan mit ebenfalls sehr kontrapunktischer Musik – einer wunderschönen Interpretation des Klassikers „My funny Valentine“. Und wiederum davor iberische Musik des 16. Jahrhundert, Komponist anonym, Interpreten aus Australien: das Ensemble La Compañia. Hier mit einem Stück, das Sehnsucht nach einer Frau ausdrückt, die nicht mehr auf- taucht. Das kennt man im Jazz und im Blues, in der ländlichen und hohen Dichtung früherer Jahrhunderte und schlichtweg überall. In solchen Situationen tröstet manchmal nichts. Vielleicht nicht einmal ein paar Minuten lang der Umstand, dass hier ein ganz wunderbarer Musiker noch einmal auftaucht: der Trompeter Chet Baker. Diesmal in einer Aufnahme von 1977, von der wir zumindest noch einen Teil spie- len können, denn das Stück ist sehr lang. Aber eben auch wunderschön. Und ich liefere es ein andermal ganz nach. Es heißt „Once upon a summertime“. Und bevor es das nächste Mal auf den Sommer zugeht, informieren Sie sich doch mal über das Festival, aus dem ich für die heutige Sendung einige wesentliche Musik-Anregungen bekommen hatte: die Tage Alter Musik in Regensburg, jedes Jahr an Pfingsten und immer sehr schnell ziemlich ausgebucht. Und nun: Chet Baker, „Once upon a summertime“. Auf Wiederhören beim nächsten Mal, Ihr Roland Spiegel. Musik: Chet Baker: Once upon …

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