Tage Alter Musik – Almanach 2013

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Die Formen der Kof- fer bekommen – gegenüber gebräuchli- chen Geigen-, Gitarren- oder Cellokästen – dann manchmal bizarre Formen, wie bei der Theorbe, einem Lauteninstru- ment des Barock. Spätestens dann wird auch kulturferneren Beobachtern be- wusst, dass wieder die Tage Alter Musik (TAM) anstehen, eines der herausragen- den Festivals seiner Art. Seit 29 Jahren ist die „beautiful ancient town“ – die entzü- ckende mittelalterliche Stadt –, wie viele Festivalgäste angesichts der Altstadt schwärmen, in dieser Zeit vier Tage lang Mittelpunkt für Musikliebhaber. Besu- cher aus ganz Europa genießen die ange- botenen Klangwelten großartiger En- sembles aus der ganzen Welt, die vom frühen Mittelalter bis zur Klassik und gelegentlich Romantik mehrere Epo- chen umspannen. „Nur schöne Konzerte“ Mit rund 7000 Gästen sind die TAM nicht nur ein künstlerisch herausragen- des Ereignis, sondern auch ein bedeutsa- mer wirtschaftlicher Faktor. Nicht ganz unwichtig für einen Bereich, der je nach ökonomischer Lage als schönes Zubrot oder überflüssiger – und damit kürzba- rer – Zuwendungsempfänger angesehen wird. Davon sind die TAM glücklicher- weise weit entfernt. Zum einen, weil Vorbereitung, Organisation und Durch- führung nach wie vor überwiegend eh- renamtlich geleistet wird. Zudem hat der erstklassige Ruf des Festivals kluge Spon- soren und Förderer auf den Plan gerufen, die es auf vielfältige Weise unterstützen. Darunter auch die beiden Rundfunksen- der Deutschlandradio Kultur und BR Klassik, die in den nächsten Monaten Mitschnitte einzelner Konzerte aus- strahlen. Größtes Plus aber sind die Besu- cher, wie jene Münchner Ehepaare, die sich vor der sonntäglichen Matinee im historischen Reichssaal auf dem Rat- hausplatz gegenseitig bestätigen: „Es ist fantastisch, heuer haben wir nur schöne Konzerte gehört“. Kein einziger Reinfall oder auch nur ein schwächerer Auftritt sei dabei gewesen, bekräftigen sie auf Nachfrage. Sie bewundern seit Jahren die Arbeit und den wachsenden Erfolg der Veranstalter. „Herr Hartmann macht das ja alles neben der Schule!“ Auch deshalb kämen sie seit Jahren regelmäßig nach Regensburg. Andere Besucher nutzen den früh- sommerlichen Aufenthalt, um musika- lisch-künstlerische Erlebnisse, wie die mitreißende „Fiesta Criolla“ in der bis auf den allerletzten Platz besetzten Kir- che St. Oswald, mit Freuden in der Natur zu verbinden. Ein junger Niederländer – oder flämischstämmiger Belgier – verab- redet sich in der Pause auf den Kirchen- stufen mit befreundeten Konzertgän- gern für den nächsten Tag zu einem Picknick amRegen. Beim Konzert des französischen Vo- kal- und Instrumentalensembles „Les Cyclopes“ am nächsten Nachmittag mit hochexpressiver Musik des Thüringer KomponistenMatthiasWeckmann ist er bereits wieder in der St.-Oswald-Kirche anzutreffen. Abwechselnd mit Sonaten von Antonio Bertali, Dietrich Buxtehude und Antonio Bertali lassen die beeindru- ckenden Sänger, allen voran Bass Benoit Arnould und Pascal Bertin als Altus, die schmerzlichen Eindrücke aufleben, die den Komponisten in der Zeit der Pest, als er seine geistlichen Konzerte kompo- nierte, tief aufgewühlt haben. Note für Note vermittelt sich dieses Leid und die innere Zerrissenheit im erschütternden Spiel und Gesang und in Zeilen wie „Wie liegt die Stadt so wüste, die voll Volks war“. Einzigartige Klangräume Ein weiterer Eindruck, der sich Konzert- gängern in den historischen Konzertstät- ten immer wieder aufs Neue erschließt, ist die erweiterte Raumerfahrung. Vor al- lem die selten zugängliche Dominika- nerkirche, einer der schönsten sakralen Räume Regensburgs überhaupt, offen- bart im Gesang des neunköpfigen Män- nerensembles Cappella Romana aus Portland in den USA ein prägendes Erle- ben des gewaltigen Kirchenschiffs. Wie- derholt gerät man bei den biblischen Er- zählungen aus dem Reich Ostroms – „Auf dem Berg Sinai: Byzanz am Ende der Welt“ heißt das Programm der Ame- rikaner – in Versuchung, in eine mysti- sche Weltentrücktheit abzutauchen. In den fremdartigen meditativ-suggestiven Melodien scheinen sich in Kombination mit der Strenge der Kirche räumliche Weite und geschichtliche Tiefe ganz spe- ziell zu entfalten. In solchen Momenten ist man dank- bar, dass Regensburg vom Krieg und an- deren zerstörerischen Ereignissen weit- gehend verschont geblieben ist. Natür- lich tragen auch die späte Stunde vor Mitternacht und das gedämpfte Licht der Kirche ihren Teil zu dieser abgehobe- nen Stimmung bei. Vom Erfolg dieses Mitternachtskonzerts mit 600 meist älte- ren Zuhörern sind selbst die Veranstalter FESTIVAL Pfingststimmung in derWelterbestadt: Die Tage Alter Musik bieten intensive Klangerlebnisse und besondere Raumer- fahrungen. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON MICHAEL SCHEINER, MZ Entrückung und Verzückun „Abgefahrene Musik“: Dem Konzert von Cappella Romana lauschten in der Dominikanerkirche zu mitternächtlicher Stunde run Zorn, Rache, das Wüten im Kampfe, Ge- metzel, Tod und Vernichtung: alles Be- griffe und Affekte aus dem Oratorium „Jahel“ des Venezianers Baldassare Ga- luppi (1706-1785). Der Plot stammt aus dem alttestamentarischen Buch der Richter, Kapitel vier und fünf: Heber hat die Unterdrücker des Landes Israel ge- schlagen und die feindliche Armee ver- nichtet. Nur der Anführer Sisara lebt noch, bittet die Jüdin Jahel, die Frau He- bers, um Zuflucht in ihrem Zelt. Sie macht den ultimativen Befreiungsschlag und tötet Sisara im Schlaf, treibt einen Zeltpflock durch seine Schläfen. Blutrünstig geht es also zu in diesem Oratorium, geschrieben für eines der vier Ospedale in Venedig, karitativen Einrichtungen, die sich auch der musi- kalischen Ausbildung ihrere Zöglinge widmeten und im Laufe der Zeit zu mu- sikalischen Zentren herausbildeten. Manche Aufführungen hatten Ausmaße des heutigen Musicalbetriebs: 100 be- zahlte Aufführungen sind 1744 für eines der lateinisch textierten Oratorien Bal- dessare Galuppis nachgewiesen. Die Ausführenden bei „Jahel“: sechs Frauen- stimmen, ein kleines Streicherensemble. Die Cappella Artemisia, ein italieni- scher Frauenchor, der sich auf die Inter- pretation von Musik des 16. und 17. Jahr- hunderts aus italienischen Nonnenklös- tern spezialisiert hat, und das Orchestra Barocca di Bologna stellten dieses Werk des 18. Jahrhunderts in der Kirche St. Os- wald vor, in einer Fassung von 1770, die man gerade erst in der Züricher Zentral- bibliothek entdeckt hat. Musikwissenschaftlich sicherlich er- freulich, stellt sich beim Hören doch die Frage: Muss wirklich alles ausgegraben werden? Viele endlose Da-capo-Arien reihten sich aneinander, durchsetzt von ausführlichen rezitativischen Passagen. Die Ensemblestücke jeweils am Ende der beiden Teile kamen erfrischend rüber, denn die Sängerinnen bilden ein ausge- zeichnetes Ensemble, schienen aber als Solistinnen fast alle überfordert, den Par- tien weder stimmlich noch interpretato- risch gewachsen. Gegen Ende, mit Jahels Schlaflied („ZumRauschen zitternden Laubwerks“) und dann, als der Feind schon tot war und man nur noch über die Freude der gewonnen Freiheit berichtet, Rose und Lilie besingt (Deboras Mandolinenarie; auch Baraks „Zwischen den Schatten“) traf man die Affekte besser. Aber die blühsegeligen Rache-Arien, die Zornes- stürme, die im Wasserglas verpufften, die ungelenken Solistenkadenzen, wa- ren für die Zuhörer am Sonntagabend in der Oswald-Kirche eine echte Herausfor- derung. Dirigent Paolo Faldi setzte kaum dra- matische Akzente, ließ auch das Orches- ter eher sanft plätschernd spielen denn affektgeladen. Von frühklassischer Mu- sik bleibt halt nicht sehr viel übrig, wenn man den Affektgehalt so gar nicht herausarbeitet, nur auf etwas Abwechs- lung durch Dynamik setzt, keine Ent- wicklungen innerhalb der Musik zu- lässt, alles nur putzig darstellt. Claudia Böckel !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! ➜ Mehr Konzertberichte von den Tagen Alter Musik finden Sie in unserer morgigen Ausgabe. Ohne Affekte verpufft der Zorn Orchestra Barocca di Bologna & Cappella Artemisia Es schon eine harte Sache im ersten Nachtkonzert der Tage Alter Musik in der Dominikanerkirche: eineinhalb Stunden geballter byzantinischer Cho- ral, stimmgewaltig, mit nicht nachlas- sender Intensität. Das feinsinnige grego- rianische Ohr musste sich erst mal an die etwas rauere Gangart gewöhnen, aber der Abstecher von West- nach Ostrom lohnte sich. Seit über 20 Jahren beschäftigt sich die amerikanische „Cappella Romana“ unter ihrem Leiter Alexander Lingas mit ostkirchlicher Musik, brachte mehr als ein Dutzend CDs heraus und war jetzt zum ersten Mal in Deutschland zu hö- ren. Die Sänger hatten Musik aus dem Katharinenkloster am Fuß des Berges Si- nai dabei, einem Ort, der von Pilgern als jener Platz verehrt wurde, an dem Gott Moses im brennenden Dornbusch er- schienen war. Das Regensburger Programm bestand aus einer Vesper zum Fest der heiligen Katharina und einem liturgischen Dra- ma von den drei Jünglingen im Feuer- ofen. Das ist äußerst interessante kunst- volle Musik mit markanter und aus- drucksstarker, teils auch melismenrei- cher Melodik, die prägnant rhythmisiert wird. Durch Liegetöne werden kontinu- ierliche Klangräume, größere zusam- menhängende Komplexe erzeugt, Solo- und Tuttipassagen organisch verbunden. Und mit großem Können und nicht nachlassender Begeisterung setzte die Cappella Romana dies in volltönenden Klang um. Randolf Jeschek Klänge vom Berg Sinai Cappella Romana Gli Incogniti, die Unbekannten: So hei- ßen sie, sind es aber nicht. Barockgeige- rin Amandine Beyer und ihre formidab- len musikalischen Mitstreiter hatten sich das England des späten 17. Jahrhun- derts ausgesucht und um den Exil-Italie- ner Nicola Matteis Musik von Henry Purcell gruppiert, Triosonaten und Cem- balostücke des Orpheus britannicus, Sui- ten zusammengestellt aus Matteis‘ „Ay- res for the Violin“ mit einer und mit zwei Geigen (Yoko Kawakubo). Ein wenig Folklore, Bizarrerie, Melan- cholie, Virtuosität, Fantasie und Extre- me, das macht Matteis‘ Werk aus. Er selbst war ein berühmter Violin-Virtuo- se. Um sich seiner Musik anzunähern, ließ Beyer sich sogar auf Besonderheiten der Geigenhaltung ein: Ohne Halskon- takt wird das Instrument nur leicht ge- gen die Schulter gehalten. Die extrem kurzen Steckfroschbögen tun ein Übri- ges für eine äußerst spritzige, witzige Musizierpraxis, die Affekte offenlegt, melancholisch ausgekostete Messa-di- voce-Töne neben kurze Staccati stellt, quasi orchestrale Klangfülle auch aus ei- ner einzigen Barockgeige herausholt, die aufs Einfallsreichste grundiert wurde von der Basso-continuo-Gruppe mit An- na Fontana, Cembalo, Baldomero Barcie- la, Viola da gamba, und Francesco Roma- no, Theorbe und Barockgitarre. Mal bezaubernd leise, mal ausge- spielt, mal nur hingewischt, dann mit ra- senden Tempi hingefetzt: Da blitzte es nur so vor Spielfreude, vor Virtuosität. Claudia Böckel Blitzende Virtuosität Gli Incogniti

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