Tage Alter Musik – Almanach 2013

Frankreichs Alte-Musik-Szene im Fokus Am Pfingstsonntag eröffneten Gli Incogniti den Konzertreigen, der fast ausschließlich von französischen Ensembles gestaltet wurde. Gli Incogniti , bereits vor drei Jahren begeistert vom Publikum der Regensburger Tage Alter Musik aufgenommen, konnten im Reichssaal wieder voll und ganz überzeugen. Mit ausgezeichneten Ensembletugenden, nuanciertem, ausgewogenem Zusammenspiel und einer gehörigen Portion Freude am eige- nen musikalischen Tun widmeten sie sich dem Schaffen des in London wirkenden italienischen Geigenvirtuosen Nicola Matteis (um 1650 – um 1700). Dabei brillierte insbesondere Amandine Beyer mit präziser Artikulation und einer souveränen, nie vordergründigen Virtuosität. Kompositionen von Henry Purcell rundeten das kurzweilige Programm ab. Amandine Beyer hatte am nächsten Tag in einer Matinee nochmals Gelegenheit, sich als eine der führenden Barockgeigerinnen ihrer Generation zu präsentieren. In der Bruderhauskirche St. Igantius spielte sie von Johann Sebastian Bach die Sonate C-Dur BWV 1005, eine Solosonate a-Moll von Johann Georg Pisendel und abschließend Bachs E-Dur-Partita BWV 1006. Während insbesondere in der Sonate C-Dur die höchst anspruchs- volle Fuge noch etwas angestrengt wirkte, meisterte Beyer die Partita mit tänzerischer Leichtigkeit und reizte ihre Virtuosität oftmals bis an die Grenzen aus. Darüber hinaus ist sie, etwa im Largo von BWV 1005, zu einem beglückend schönen Cantabile fähig. Doch zurück zum Sonntagnachmittag: In der St.-Oswald-Kirche warteten Les Cyclopes aus Frankreich mit norddeutscher Barockmusik auf. Nach der eröffnenden Sonata „Tausend Gülden“ von Antonio Bertali erklangen geistliche Konzerte von Matthias Weckmann und Franz Tunder sowie die Sonata BuxWV 266 für zwei Violinen, Viola da Gamba und Basso continuo von Dietrich Buxtehude. Unter dem Eindruck der Pestepidemie, die 1663 in Hamburg wütete, schrieb Weckmann ergreifende Kompositionen, denen man die persönliche Betroffenheit noch heute anhört. Les Cyclopes erwiesen sich als kompetente Sachwalter dieser Musik. Im Sängerquartett fiel lediglich Eugénie Warnier mit teils unschönem Vibrato und nicht immer präzisen Koloraturen etwas ab, während Pascal Bertin (Altus), Jeffrey Thompson (Tenor) und Benoît Arnould (Bass) durchweg überzeugen konnten. Sie setzten mit Weckmanns „Weine nicht, es hat überwunden“ einen beachtlichen Schlusspunkt unter das Programm. Zu fast mitternächtlicher Stunde unternahm das Ensemble Syntagma den Rekonstruktionsversuch einer Aufführung der „Missa sine nomine“ von Johannes Ockeghem, wie sie im Barockzeitalter stattgefunden haben könnte. In der Tat war im 18. Jahrhundert die Musik früherer Epochen nicht vollständig in Vergessenheit geraten. Johann Sebastian Bach bearbeitete zum Beispiel eine Messe von Pierluigi da Palestrina. Selbstverständlich unterwarf man die alten Werke dem Stil der eigenen Zeit, verwendete moderne Instrumente und ergänzte den Satz mit einem Generalbass. Von historisch informierter Aufführungspraxis war noch keine Rede. Warum Syntagma jedoch in der Dominikanerkirche mit Instrumenten der Zeit um 1500, wie Laute, Gambe oder Organetto, zu Werke ging, konnte sich mir nicht erschließen. Statt die Vokalstimmen colla parte mit Instrumenten zu begleiten, hat man die tiefen Stimmen nur instrumental ausgeführt. Gesungen wurden lediglich Diskant (Zsuzsi Thòt, Mami Irisawa), Alt (Akira Tachikawa) und Tenor (Giovanni Catarini). Das Resultat war kein barocker, sondern ein höchst fragwürdiger mittelalterlicher Klang – in letzter Konsequenz weder Fleisch noch Fisch. Pariser Sinfonien – Wer, bitte, ist Johann Christoph Vogel? Am Montagnachmittag war noch einmal der Reichssaal Schauplatz eines gelungenen Konzerts. Das deutsche Ensemble Per-Sonat widmete sich kompetent und abwechslungsreich dem „Augsburger Liederbuch“ aus dem frühen 16. Jahrhundert. In verschiedenen vokal-instrumentalen Besetzungen zeichneten Sabine Lutzenberger (Sopran), Achim Schulz (Tenor), Tim Scott Whiteley (Bass), Tobie Miller (Blockflöte), Elizabeth Rumsey (Gambe), Baptiste Romain (Fiedel, Violine) und Tore Eketorp (Gambe) ein stimmiges Bild bürgerlich-städtischer Musikkultur an der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance. Erstmals in Europa live zu hören war anschließend in der Alten Kapelle das kanadische Barockorchester Four Centuries of Bach . Die interessan- ten Rekonstruktionen von Instrumentalwerken Johann Sebastian Bachs gingen teils auf Forschungen des unermüdlichen Joshua Rifkin zurück. Zu Beginn erklang die Ouvertüre Nr. 2 BWV 1067 in einer Fassung für Oboe, Streicher und Basso continuo mit dem Ensembleleiter John Abberger als Solisten. Da die Kanadier, wie schon am Samstagabend Il Gardellino , mit nur einfacher Streicherbesetzung nach Regensburg kamen, blieb ins- besondere in diesem, dem französischen Orchesterstil verpflichteten Werk der Klang unangemessen dünn. Darüber hinaus konnte Four Centuries of Bach den hohen Erwartungen an ein Festivalkonzert nur bedingt genügen und ließ auch beim Violinkonzert E-Dur BWV 1042 (Solist: Adrian Butterfield) so manchen Wunsch offen. Für einen versöhnlichen Ausklang sorgte der englische Countertenor Michael Chance, der kurzfristig für Daniel Taylor eingesprungen war. In der Kantate „Ich habe genug“ BWV 82 standen ihm John Abberger (Solo-Oboe) und Four Centuries of Bach als aufmerksame Partner zur Seite. „Klassisch“, wie sie begonnen hatten, klangen die Tage Alter Musik 2013 aus. Gleichsam mit einem Regensburger „Concert spirituel“ bot am Abend das belgische Originalklangorchester Les Agrémens im Neuhaussaal ein begeisterndes Finale. Unter der Leitung von Guy van Waas spiel- ten sie Orchesterwerke, die im späten 18. Jahrhundert in den berühmten Pariser Konzerten aufgeführt wurden: etwa eine Sinfonie D-Dur von André-Ernest-Modeste Grétry oder die Sinfonie F-Dur op.8/2 von François-Joseph Gossec. Joseph Haydns „Pariser Sinfonien“ Nr. 84 und Nr. 85 „La Reine“ bildeten in diesem Umfeld mit ihrer Fülle an Kontrasten, Überraschungen und musikalischem Humor die Maßstab setzenden Schwergewichte. Les Agrémens meisterten sie mit Bravour! Doch der Höhepunkt war das Klarinettenkonzert B-Dur von Johann Christoph Vogel mit dem hervorragenden Solo-Klarinettisten Eric Hoeprich. – Wer, bitte, ist Johann Christoph Vogel? 1756, im selben Jahr wie Mozart geboren, war er zunächst in der Hofkapelle der Thurn und Taxis in Regensburg tätig, kam aber bereits im Alter von zwanzig Jahren nach Paris. Dort starb er allzu früh im Jahre 1788. Von ihm würde ich gerne mehr hören! Sein Klarinettenkonzert hätte jedenfalls im Kreis des bekannten Standardrepertoires (Mozart, Weber) einen würdigen Platz verdient. Mit einer übergroßen Fülle an musikalischen Eindrücken bin ich wieder aus Regensburg abgereist. Die herausragenden Konzert-Highlights habe ich dieses Mal nicht mit im Gepäck. Nur Weniges wird von den Tagen Alter Musik 2013 in Erinnerung bleiben – vielleicht Elyma und Gabriel Garrido, Gli Incogniti oder Les haulz et les bas (wäre ich doch dabei gewesen…), sicherlich Les Agrémens . Doch es war nie das Konzept von Pro Musica Antiqua , sein Festival mit „todsicheren“ Publikumsmagneten und Stars der Szene zu bestücken. Immer gab es in Regensburg das Außergewöhnliche, manchmal auch Abwegige zu entdecken. Dafür hat sich die Reise schon fünfundzwanzig Mal gelohnt. Den Organisatoren der Tage Alter Musik darf man für das nun anbrechende vierte Jahrzehnt weiterhin alles Gute wünschen!

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