Tage Alter Musik – Almanach 2014

REGENSBURG. Sitzt man mit den Ma- chern der Regensburger Tage Alter Mu- sik zusammen, verschwindet jedes Zeit- gefühl. Nicht, dass Stephan Schmid und Ludwig Hartmann Nostalgiker wären, die wehmütig darauf zurückblicken, wie das vor 30 Jahren alles begonnen hat. Aber sie strahlen noch immer jene baju- warisch-hemdsärmelige Aufbruchsstim- mung aus, die das Festival seit jeher prägt und die wohl maßgeblich zu dem Eindruck beiträgt, es würde, ja es könne gar nicht altern. Bajuwarisch-hemdsärmelig? Obacht – dass da keine Missverständnisse auf- kommen: Schmid und Hartmann haben als Domspatzen mitgesungen, als Hanns-Martin Schneidt Monteverdis Marienvesper und Nikolaus Harnon- court Bachs Matthäuspassion einspiel- ten. Mit dieser musikalischen Sozialisati- on im Rücken haben sie sich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte eine Expertise im Bereich der Alten-Musik-Szene erarbei- tet, die ihnen so schnell keiner nach- macht. Und das untrügliche Gespür für neue, bahnbrechende Ensembles, dem das Festival seinen glänzenden, weltwei- ten Ruf verdankt. Viele der ganz großen Namen waren in Regensburg, bevor sie ihren Durchbruch hatten: Il Giardino Armonico, Anonymous 4 oder – noch vor der Wende – die Akademie für Alte Musik Berlin. Nach wie vor kann man in Regensburg elektrisierende Entdeckun- gen machen, gerade auch mit Formatio- nen, die bei den Tagen Alter Musik ihr Europadebüt geben. Neben dem seit 1999 aktiven Ge- schäftsführer Paul Holzgartner machen die beiden Gründer das Festival weiter- hin ehrenamtlich: Ludwig Hartmann, wenn die Woche Musikunterricht an ei- nemMünchner Gymnasium um ist, und Stephan Schmid, wenn er sich nicht ge- rade um die Redaktion des Alte-Musik- Magazins „Toccata“ kümmert. Ihr An- trieb ist derselbe wie vor 30 Jahren: „Es tut sich so viel in der Szene, dass die Ideen nicht ausgehen“, versichert Ste- phan Schmid. „Im Gegenteil, es wird im- mer schwieriger, auszuwählen, weil es so viele neue Gruppen auf so hohem Ni- veau gibt. Wenn man das Gefühl hätte, es läuft sich tot, es ist immer dasselbe, müsste man es nicht mehr machen. Aber der Punkt ist überhaupt nicht absehbar.“ Für Hartmann sind es vor allem die Programme „jenseits des Mainstream“, für die sich das Weitermachen lohnt: „Genau das wollen die Leute hier hören! Warum ist das Konzert mit Veneziani- scher Mehrchörigkeit seit Wochen aus- verkauft? Weil man sonst nirgends Ga- brieli oder Willaert zu hören bekommt, nur bei Festivals wie dem unsrigen.“ Nicht üppig: 250 000 Euro Etat Eine erstaunliche Zurückhaltung zeigt das Publikum, so die Erfahrung der Festi- valmacher, dagegen immer noch gegen- über der Ausweitung der historischen Aufführungspraxis in Richtung Klassik und Romantik. „Aber wir probieren es weiter“, gibt sich Hartmann kämpfe- risch. Nächstes Jahr ist ein Konzert mit rein klassischem Programm für den zen- tralen Samstagabend-Termin geplant. Durch die Einrichtung zahlreicher Studiengänge ist die historische Auffüh- rungspraxis mittlerweile an vielen Mu- sikhochschulen verankert. Die damit einhergehende Gefahr der Nivellierung der Interpretationsstile sehen Schmid und Hartmann eher gelassen. Sie sind seit jeher an denjenigen Ensembles inter- essiert, die einen eigenen Zugang entwi- ckeln. Den in Mode gekommenen Be- griff „historisch informierte Auffüh- rungspraxis“ sieht Ludwig Hartmann al- lerdings mit Skepsis: „Mir kommt es so vor, als soll da eine Brücke gebaut wer- den für eine Vereinnahmung von der traditionellen Seite her. Da wehre ich mich dagegen, und wir versuchen nach wie vor, die radikaleren Ansätze zu brin- gen und zu vermitteln.“ Die Rahmenbedingungen des Festi- vals, das traditionell am Pfingstwochen- ende in den historischen Kirchen und Sälen der Regensburger Altstadt über die Bühnen geht, sind mittlerweile etwas weniger prekär als in den ersten zehn Jahren. In dieser Zeit machten Hart- mann und Schmid nach dem letzten ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON JUAN MARTIN KOCH, MZ FESTIVAL Die Tage Alter Musik sind eine gute Adresse für Entdeckungen. Präsentiert werden 17 Konzerte an vier Tagen, allesamt in prachtvoller historischer Kulisse. Musikgenuss auf Sch Stiefel, Turnschuhe, Gold-Ballerina: Das Foto von Les Voix Humaines Consort of Viols veranschaulicht die Vielfalt von Program Weitere Informationen und Bilder zum Thema finden Sie bei uns im Internet: ➤ www.mittelbayerische.de ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● AKTUELL IM NETZ ● ➲ Sehen Sie mehr! Ludwig Hartmann (l.) und Stephan Schmid Fotos: altrofoto.de REGENSBURG. Seit Herbst 2013 ist Katelij- ne Schiltz als Nachfolgerin von David Hiley Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Regensburg. Ein For- schungsschwerpunkt ist die Auffüh- rungspraxis in Mittelalter und Renais- sance. Im Vorfeld der Tage Alter Musik sprach die Forscherin über ihre Leiden- schaft für die Musik der Renaissance und die Frage des „Authentischen“. Wie kam es zu Ihrer Liebe für die Alte Mu- sik? Katelijne Schiltz: In Belgi- en, wo ich herkomme, ist die Alte Musik sehr lebendig. Ich selbst komme aus der Praxis und habe vor meiner Promo- tion in Leuven auch „Early Vocal Music“ in Holland stu- diert. Sowohl rational als auch emotional fühle ich mich zur Musik des 15. und 16. Jahrhunderts sehr hinge- zogen. Also vor allem zur Vokalpoly- phonie der Renaissance? Ja, hauptsächlich. In Tilburg haben wir ausschließlich aus Originalnotatio- nen gesungen, nicht aus modernen No- tenausgaben. Das ist natürlich ein ganz eigener Zugang zur Musik. Inwiefern? Wenn alle Stimmen vertikal unterei- nander stehen, sieht jeder, was der ande- re gerade singt. Nach einem Fehler hat man die Chance, wieder hineinzufinden. Bei Stimmbüchern oder Chorbüchern fehlt die Möglichkeit, sich über das Auge zu orientieren. Man muss viel stärker über das Gehör arbeiten. Das hat auch meine Art, Musik zu analysieren, we- sentlich beeinflusst. Ist nicht auch die Empfindung des Rhythmus eine andere? Sicher, dadurch, dass es keine Takt- striche gibt, denkt man linearer, in grö- ßeren Abschnitten. Dieser Unterschied ist auch bei den Ensembles zu hören, je nachdem ob sie aus neuen Editionen oder aus Faksimiles singen. Was weiß man über die Aufführungspraxis dieser Zeit? Es gibt zeitgenössische Berichte, aber man kann da nichts verallgemeinern. Über bestimmte Institutionen ist man sehr gut informiert, zum Beispiel über die Capella Sistina oder San Marco in Ve- nedig. Manchmal halten Reiseberichte aufschlussreiche, sehr spontane Eindrü- cke fest. Und dann sind da natürlich die theoretischen Traktate, wobei sich aber immer die Frage stellt, in welchem Ver- hältnis sie zur tatsächlichen Praxis ste- hen. Hochinteressant ist es etwa, wenn Nicola Vicentino Mitte des 16. Jahrhun- derts über Sänger schreibt, die Schwan- kungen in der Dynamik und im Tempo einbauen, die nicht fixiert sind. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende Ideal eines ebenmäßig dahinfließenden, etwas sterilen Klanges hat also wahrscheinlich nicht allzu viel mit der Vorstellung der Entstehungszeit zu tun. Viele Künstler der Alten-Musik-Szene sind selbst als Wissenschaftler aktiv, forschen nach neuem Repertoire und entwickeln eige- ne Thesen zur Aufführungspraxis. Was sagt die „offizielle“ Musikwissenschaft dazu? Ist das immer seriös, was da als „authentisch“ angeboten wird? Eine gute, aber schwierige Frage. In der Musikwissen- schaft ist es mittlerweile Kon- sens, dass man das Adjektiv „authentisch“ in diesem Zu- sammenhang in Anführungs- zeichen setzt. Oft suchen Mu- siker sich eklektisch das zu- sammen, was für das Publi- kum interessant sein könnte, und man muss das als Wis- senschaftler immer wieder kritisch hinterfragen. Wenn ich mit Musikern und En- sembles für Projekte oder CD-Aufnahmen zusammen- arbeite, versuche ich so viele Informationen wie möglich zu liefern. Irgendwann ist diese Arbeit jedoch zu Ende, dann ist die Kreativität und Fanta- sie der Musiker gefragt. Wie steht es mit dem Informationsbedürfnis des Publikums? Da besteht großes Interesse, denke ich. Deshalb freut es mich, dass wir in diesem Jahr eine Kooperation des Musik- wissenschaftlichen Instituts mit den Ta- gen Alter Musik starten: Mein Kollege, Institutsleiter Wolfgang Horn, wird eine Einführung in Bachs h-Moll-Messe ge- ben. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir diese Zusammenarbeit ausbauen könnten. Denkbar wäre etwa, dass wir hier in Seminaren an Themen arbeiten, die für das Festival relevant sind. Das wä- re eine tolle Erfahrung für die Studieren- den, schließlich gibt es nicht so viele ver- gleichbare Veranstaltungen. Haben Sie sich schon Ihr persönliches Festi- valprogramm zusammengestellt? Ja, meine Tickets habe ich schon sehr lange! Ich gehe natürlich zum belgi- schen Ensemble „Vox Luminis“ und zum „Concerto Palatino“ wegen des venezia- nischen Programms. Die h-Moll-Messe ist ein Muss, aber ich lasse mich auch gerne überraschen: „Voces 8“ kenne ich zum Beispiel noch nicht. Besonders freue ich mich auf Corina Marti und ihr Clavisimbalum. Das wird sehr intim, sehr fein. Es ist keine Musik der großen Gesten, dafür aber ungeheuer subtil. Und zum Abschluss natürlich Purcells Oper „Dido and Aeneas“! Auf der Suche nach dem verlorenenKlang INTERVIEW Katelijne Schiltz er- forscht die Aufführungspraxis in Mittelalter und Renais- sance. MZ-Autor Juan Martin Koch sprachmit ihr. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ● ●● ●● ● ●● INTERVIEW ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ➥ Haben Sie Fragen? Schreiben Sie uns! nachrichten@mittel- bayerische.de KATELIJNE SCHILTZ Musikwissenschaftlerin ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Das berühmte Regensburger Festival geht an Pfingsten zum30. Ma TAGE ALTER MUSIK VO ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ●● ● ●● ●● ● ● TAGE ALTER MUSIK IM RADIO UND IM VORTRAG ➤ BR Klassik und DeutschlandradioKultur übertragen am Freitag (20.03 Uhr) live das Eröffnungskonzert mit Bachs h-Moll Mes- se. Am Sonntag (12.05 Uhr) berichtet „Ta- felconfect“ auf BR-Klassik live von den Ta- gen Alter Musik. ➤ In der Reihe Festspielzeit strahlt BR Klassik einige Konzerte aus, Termine: 7.Ju- ni (18.05 Uhr) Le Concert Spirituel; 15. Juni (20.03 Uhr) Vox Luminis; 19. Juni (20.05 Uhr) Voces 8; 23.Juni (20.03 Uhr) Bande Montréal Baroque. ➤ Vor dem Eröffnungskonzert mit Bachs h-Moll Messe führt Wolfgang Horn,Profes- sor vom Institut für Musikwissenschaft der Regensburger Universität, in das Werk ein. Er referiert im Vortragsraum im „Haus der Begegnung“ Hinter der Grieb 8 (Eingang wie Café Vitus) am Freitag (18.45 bis 19.30 Uhr) unter dem Titel „Bach, Leipzig, Mes- se, Dresden, die h-Moll-Messe im Brenn- punkt“; der Eintritt ist frei. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! ➜ www.tagealtermusik-regensburg.de ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● KARTEN-VERLOSUNG FünfMZ-Leserhaben die Chance,jezwei Freikarten fürdie TageAlterMusikzuge- winnen:Die BandeMontréalBaroque ausKanada führtam Samstag,16Uhr,in derDreieinigkeitskirchesechs„neue BrandenburgischeKonzerte“von J.S. Bach,arrangiertvon BruceHaynes (1942-2011),auf.Musikfreunde melden sichheuteunter01379-885813(0,50Eu- ro/Festnetzanruf;Mobilfunkggf.abwei- chend).DieGewinnerwerdenbenach- richtigt.

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