Tage Alter Musik – Almanach 2015

20 Deutschlandfunk „Konzertdokument der Woche“, 26. Juli 2015 Redaktion: Christiane Lehnigk Autor: Thomas Daun 1. Teil Monteverdi 1610 Im Jahre 1610 erschien in Venedig eine Sammlung geistlicher Werke von Claudio Monteverdi, die heute unter dem Namen „Marienvesper“ bekannt ist. Bei den diesjährigen „Tagen Alter Musik Regensburg“ lud der amerikanische Dirigent Joshua Rifkin zu einer außergewöhnlichen und neuar- tigen Interpretation dieses Schlüsselwerks der frühen Barockzeit ein. Mit einem hochkarätig besetzten solistischen Sängerensemble und den Instrumentalisten von Concerto Palatino präsentierte er Monteverdis Musik in drei Konzerten, aufgeteilt auf die drei im Titel der Sammlung genannten Werkgruppen: eine Messe, eine Folge von geistlichen Konzerten und die „Vespro della beata vergine“, also die eigentliche Marienvesper. Zwei dieser Konzerte sind heute Abend hier zu hören – außerdem Auszüge aus einem Gespräch mit Joshua Rifkin. Im Studio begrüßt Sie Thomas Daun. Claudio Monteverdi stand in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts im Mittelpunkt eines musikalischen Disputs. Giovanni Maria Artusi, ein bekannter Literat und Musiktheoretiker, hatte in einer Streitschrift die neuere Entwicklung der Kompositionskunst scharf kritisiert. Als Beispiele für die in seinen Ohren „falsche“ Musik der Moderne zitierte er Passagen aus verschiedenen Werken Monteverdis. In seinen Madrigalen hatte sich der Komponist vom bis dahin üblichen mehrstimmig-polyphonen Stil entfernt. Seine Melodien orientierten sich am Text und deuteten ihn musikalisch aus. Die Begleitstimmen waren eher harmonisch als kontrapunktisch gedacht. Artusi lehnte diesen neueren Stil, den er als „seconda prattica“ bezeichnete, vehement ab. O-Ton: Joshua Rifkin „(..)„Prima prattica“ – erste Praxis – das war irgendwie die herkömmliche polyphone Musik von Palestrina, Orlando di Lasso, Clemens non Papa und anderen. Man unterschied zwischen dieser Musik und einer neuartigen Musik, die Monteverdi vertritt. Und diese neuartige Musik wurde gekennzeichnet, wenigstens nach dem, was die Schriftsteller, die Theoretiker sagen, durch ein anderes Verhältnis zum Text; es wurde viel mehr vom Textausdruck bestimmt und dadurch kam eine andere Behandlung des Kontrapunktes, vor allem der Dissonanz.“ Im Vorwort zum Druck von 1610 wehrte sich Claudio Monteverdi gegen seine Kritiker. Mit seiner Musik, so schreibt er, wolle er die „unge- rechten Münder, die gegen Claudio gesprochen haben, schließen.“ In den verschiedenen Werken der Sammlung zeigt der Komponist, dass er beide Stile kompetent beherrscht. Für Dirigent Joshua Rifkin sind die Unterschiede zwischen „prima“ und „seconda prattica“ ohnehin eher gradueller Art. O-Ton: Joshua Rifkin „(..) Das merkt man bei Monteverdi ganz spezifisch. Wir haben hier diese Messe, die angeblich eine Messe nach alter Art wäre, prima prattica, und es ist zwar ohne obligate Instrumente, im Grunde ohne Basso Continuo, es ist durchgehend polyphon im imita- torischen Satz und so weiter. Und dennoch spricht es in vielem eine gemeinsame Sprache mit der angeblich neueren Musik Monteverdis; also das ist alles Monteverdi, es sind irgendwie zwei Schattierungen seiner Persönlichkeit, aber die sind nicht so schroff auseinanderzuhalten, wie man heute meinen könnte.“ Hier können Sie zu Beginn das „Kyrie eleison“ aus Claudio Monteverdis „Messe zu sechs Stimmen“ hören, aufgenommen am Pfingstsonntag in der Dominikanerkirche im Rahmen der Tage Alter Musik Regensburg. Musik Bevor nun nach diesem Kyrie die übrigen Sätze der Messe aus der Sammlung von 1610 erklingen, spricht Joshua Rifkin über den Interpretationsansatz, mit dem er sich der barocken Musik nähert. Schon in den 1980er Jahren sorgte der amerikanische Dirigent und Musikhistoriker mit seinen Forschungsergebnissen zur Aufführung der Vokalmusik von Johann Sebastian Bach für Aufsehen und erbitterten Widerspruch. Rifkin wies damals nach, dass die Chorpartien in Bachs Kantaten, Messen und Oratorien in der Regel solistisch besetzt waren. Auch für die einhundert Jahre ältere Musik Monteverdis lassen sich laut Joshua Rifkin entsprechende Belege finden. O-Ton: Joshua Rifkin „Einen Chor im modernen Sinn hat es damals einfach nicht gegeben. Alle Musik wurde grundsätzlich von Solisten-Ensembles auf- geführt; das ist der Fall bei Monteverdi, das ist der Fall bei Bach usw. Man kann das mögen oder nicht, aber das ist eine ganz ein-

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=