Tage Alter Musik – Almanach 2015

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Das berichtete Georg Philipp Te- lemann in seiner Autobiographie und setzte hinzu: „Man sollte kaum glau- ben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben. Ein Aufmerckender könnte von ih- nen, in 8 Tagen, Gedancken für ein ganzes Leben erschnappen.“ Dass nicht nur Telemann ein sol- cher „Aufmerckender“ war, der Tonfäl- le und Rhythmen der osteuropäischen Volksmusik „erschnappte“, demonst- riert das Il Suonar Parlante Orchestra bei seinem Auftritt im Rahmen der Ta- ge Alter Musik. Vittorio Ghielmi als Ensembleleiter macht sich zusammen mit seinen Mitmusizierenden auf Spu- rensuche und wird vielfach fündig: au- ßer bei Telemann auch bei dessen Zeit- genossen Johann Gottlieb Graun, Frantisek Jiránek, Johann Adolf Hasse und Franz Benda. Mal sind im „barba- rische Schönheit“ übertitelten Pro- gramm die östlichen folkloristischen Einflüsse mit Händen zu greifen, mal bleiben sie eher vage. Doch die Über- gänge sind ohnehin fließend: was an Wiederholungen musikalischer Moti- ve Gemeingut barocker Rhetorik ist und was Einfluss der Floskeln osteuro- päischer Tanzmusik, lässt sich oft kaum auseinanderhalten. Eine Armee aus lauter Generälen Vittorio Ghielmi und sein tempera- mentvoll musizierendes Il Suonar Par- lante Orchestra legen es zudem bei ih- ren Interpretationen gezielt darauf an, Grenzen verschwimmen zu lassen und greifen zu diesem Zweck zur Ver- fremdung. Es ist schon eine originelle Idee, bei Telemanns Konzert in a-Moll für Blockflöte, Gambe und Streicher im Continuopart ein Cimbalom mit- spielen zu lassen und diesem auch mal einen Soloauftritt zu gönnen, bei dem Marcel Comendant mit höchst virtuo- ser Klöppeltechnik die Aufmerksam- keit ganz auf sich zieht. Eine Armee aus lauter Generälen ist das Il Suonar Parlante Orchestra, sprich: ein Ensemble, bei dem jedes Mitglied zu solistischen Spitzenleis- tungen fähig ist. Hier sind nicht nur Teufelsgeiger zu erleben wie Alessan- dro Tampieri, der in Frantisek Jiráneks Violinkonzert rasant die kleinteiligen Bewegungen seines Parts durchmisst, sondern mit Vittorio Ghielmi und Do- rothee Oberlinger auch ein Teufels- gambist und eine Teufelsflötistin. Ghielmi zeigt in Johann Gottlieb Grauns a-Moll-Gambenkonzert eine schier unglaubliche Beweglichkeit des Spiels, sodass schnelle Passagen schon mal wie Trommelfeuer klingen, setzt dem allerdings auch empfindsamen Gesang in Doppelgriffen zur Seite. An Wendigkeit steht ihm Dorothee Ober- lingers Blockflöten-Kunst in nichts nach: Ganz locker ergeht sich ihr Spiel in Läufen, weiten Sprüngen und Tril- lern. Weitere Solistin ist die argentini- sche Sopranistin Graciela Gibelli, die in Johann Adolf Hasses Arie „L’Auge- letto“ höchst artifiziellen, verschnör- kelten Gesang vernehmen lässt. Geiger Palúch als Zigeuner-Primas Die Begeisterung des Publikums in der Oswaldkirche steigert sich bis zu fre- netischem Applaus, als es im letzten Teil des Programms nochmals ganz deftig zur Sache geht. Barockmusik mit „barbarischem“ Einfluss findet sich hier in wildemWechsel mit über- lieferter Volksmusik aus der Lieder- und Tanzsammlung „Uhrovec“ von 1730 zur Suite zusammengestellt. Ganz undomestiziert und naturwüch- sig wird beides musiziert, mit manisch wiederholten, sich immer schneller drehenden Wendungen. Bordun- und Sackpfeifeneffekte gibt es zu erleben, verquere Rhythmen und Synkopen. Die Continuogruppe agiert manchmal geradezu geräuschhaft-perkussiv und Marcel Comendant hat mit seinem Cimbalom neuerlich große Auftritte. Wie ein Zigeuner-Primas spielt sich nun Geiger Stano Palúch in den Vor- dergrund, aber siehe da: Auch Vittorio Ghielmi hat zu aller Verblüffung auf seiner Gambe den Gypsy-Sound drauf. Und die Gambe hat denGypsy-Swing FOLKLORE Das Il Suonar Par- lante Orchestra erstrahlt in „barbarischer Schönheit“. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON GERHARD DIETEL, MZ Das Il Suonar Parlante Orchestra wurde in St. Oswald am Ende seines Konzerts frenetisch beklatscht. Foto: altrofoto.de REGENSBURG. Das Abschlusskonzert der Tage Alter Musik brachte in der Dreieinigkeitskirche die Begegnung mit dem aus Nizza stammenden Flö- tisten und Orchesterleiter Alexis Kos- senko und der 2010 von ihm gegrün- deten Les Ambassadeurs. Sie gelten in- zwischen als „Luxusbotschafter“ in der Vermittlung des Repertoires der Dresdner Hofkapelle aus dem 18. Jahr- hundert und ihres damaligen Leiters, dem Komponisten, Geiger und Or- chestererzieher Johann Georg Pisende. Der bestellte bei Musikerzeitgenossen Werke, die er auch öfters für sein Or- chester einrichtete und am Hof zur Erstaufführung brachte. Bekanntestes Beispiel: Vivaldis „Concerto per molti instrumenti“, das er mit der Widmung „Per l’orchestra di Dresda“ versah. Schon hier beeindruckte die Geige- rin Zefira Valova durch ihr sehr prä- sentes und virtuoses Spiel, welches die blühende Melodik und bisweilen auch schwelgerische Harmonik der Stücke offenbarte. Die in einigen schnellen Sätzen wiedergegebenen Kadenzen zeugten von ihrer souveränen Gestal- tung. Zum Erfolg trugen die jedes De- tail ausleuchtende Darstellung durch Kossenko sowie die durchhörbare Klangschärfung und Ausformung der Soli durch die Hornisten Anneke Scott und JosephWalters bei. Ihnen zur Seite standen mit Lide- wei De Sterk und Clara Geuchen Obo- isten, deren Phrasieren für das stau- nenswerte Aufblühen lyrischer Mo- mente sorgte, wie sich vor allem im g- Moll-Concerto von Quantz zeigte. Die Tempi wirkten an keiner Stelle for- ciert, die Musik floss wie selbstver- ständlich auch in Concerti von Tele- mann und Heinichen dahin. Pisendels Concerto grosso G-Dur er- fuhr hier keine auf den bloßen Effekt hinzielende Darstellung, alles war in den Gesamtklang eingebettet. Ein hell- höriges Dialogisieren bescherten Anna Besson und Kossenko (Traversflöten), zu dem sich Marianna Henriksson ge- sellte. Ihren Continuopart auf dem Cembalo gestaltete sie durchweg diffe- renziert und feinfühlig. Von der klanglichen Präsenz, dem organischen Zusammenwirken der Ausführenden lebte auch die in schö- ner Ruhe vorgetragene Ouverture aus Zelenkas Oratorium „I penitenti als se- polcro del redentore“, wo aus der Mu- siziergemeinschaft ein volltönendes barockes Orchester wurde. Kossenkos Zeichengebung war ökonomisch, er ordnete mit sicherer Hand Klangvolu- men und Farben, suchte aber auch das Orchester mit Bewegtheit aufzuladen. Die Interpreten gingen den Geschich- ten hinter den Noten nach. Ihre Lesart der Werke war nicht abgestellt auf das Superlativische, sondern erbrachte mit gespielter beiläufiger Grandezza sowie dem vielfältig und dynamisch fein abgestuften Klang die Kongruenz von Musik und packender, wahrhafti- ger Darbietung, die die Zuhörer zu lan- gemApplaus und Bravi motivierte. Botschafter des Hofes zuDresden ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON ULRICH ALBERTS, MZ CONCERTI Packendes Festival- finale mit Les Ambassadeurs Les Ambassadeurs in der Dreieinig- keitskirche Foto: altrofoto.de REGENSBURG. Googelt man „Phan- tasm“, dann erscheint zunächst der Horrorfilm „Das Böse“. Beim britisch- finnischen Gambenconsort Phantasm geht es höchstens um den Diabolus in musica, ein teuflisch schräges Inter- vall, oder den englischen Querstand. 150 Jahre Überraschungen im engli- schen Kontrapunkt: Musik aus dem 16. und 17. Jahrhundert von Tye, Gib- bons, Byrd, Lawes, Jenkins und natür- lich von Henry Purcell, der mit seinen Fantasien den fulminanten Schluss- punkt unter die englische Musik für Gambenconsort setzt. Mit nur 20 Jah- ren schafft er es in einem Sommer, den über Jahrhunderte gewachsenen Wis- sensschatz englischer Kontrapunktik zu adaptieren und ihr seinen Stempel aufzudrücken. Als letzten Programm- punkt spielt man Purcells Fantazia upon one Note, bei der einer der Gam- bisten nur den Ton C spielt, die ande- ren Stimmen sich in blühenden Kont- rapunkten drumherum bewegen. Die Kunst des Cosortspiels liegt dar- in, die musikalischen Feinheiten der Struktur herauszuarbeiten. Das Klang- bild wirkt für den Zuhörer zunächst einheitlich. Man muss wie bei einem Spitzengeflecht immer genauer hin- schauen bzw. hinhören, um den un- endlichen Reichtum und die Komple- xität dieser Musik zu rezipieren. Ak- zentverschiebungen, raffinierte The- meneinsätze, schmerzhafte harmoni- sche Rückungen: all das macht die Consortmusik aus, die in diesem äu- ßerst klug konzipierten Konzertpro- gramm musikalisch auf höchstem Ni- veau geboten wurde, zupackend ge- spielt, rund im Klangbild, trotzdem mit Ecken und Kanten. Musik zumHinhören ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON CLAUDIA BÖCKEL, MZ ENGLAND Das Gambenconsort Phantasm punktet mit voll- endet rundemKlangbild. REGENSBURG. Es ist wohl ein Rest mit- teleuropäischer Arroganz, wenn man bei Ensembles aus Übersee kurz zuckt und zweifelt: Können vier Männer un- ter dem Namen New York Polyphony eine lupenreine und stilechte Interpre- tation altpolyphoner Vokalmusik bie- ten? Sie können. Schon der kurze Marienhymnus „Regina caeli“ von Francisco Guerrero zeigt die Klasse, in der sich das Kon- zert am Pfingstmontag in der Minori- tenkirche unter dem Titel „O quam gloriosum“ bewegt. Craig Phillips (Bass) und Christopher Dylan Herbert (Bariton) grundieren kraftvoll, bleiben aber im gemeinsamen Puls mit Geoff- rey Williams (Countertenor) und Ste- ven Caldicott Wilson (Tenor) flexibel und schlank in der Phrasierung. Der Jubelgesang „Gaudent in coelis“ von Tomás Luis de Victoria trägt alle Freu- de in sich, die solche Musik ausma- chen kann. Dabei lassen die Sänger dem alla-breve-Puls seinen Lauf, geben in der Schlussphrase kaum nach und stellen den Schlussakkord klar und prägnant in den Raum, bis er im gro- ßen Kirchenschiff vollends verklingt. Das gilt auch für die Gestaltung der Messe „O quam gloriosum“ des selben Meisters. Die Textgestaltung wird nun plastischer, im organischen Miteinan- der steigern sich die vier Sänger auf die inhaltlichen Höhepunkte zu, entspan- nen im Nachklang und entgehen stil- sicher der Gefahr, im Gesamteindruck laut und statisch zu werden. Palestri- nas „Gaudent in coelis“ gelingt des- halb ebenso superb wie zum Ende die „Lamentationes“ von Francisco de Pe- nalosa. Alte Vokalmusik in Perfektion – aus New York! Highlight aus denUSA ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VON ANDREAS MEIXNER, MZ VOKALMUSIK New York Poly- phony gelingt eine Stern- stunde des Festivals. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ●● VITTORIO GHIELMI ➤ Der Gambist und musikalische Leiter Vittorio Ghielmi wurde in Mailand gebo- ren und machte schon früh durch seine neue Art des Gambenspiels auf sich auf- merksam. ➤ Als preisgekrönter Solist wie auch als Dirigent gab er Konzerte in den ange- sehensten Konzertsälen der Welt. ➤ Ghielmi ist Autor eines weithin be- kannten Methodenlehrbuchs für das Gambenspiel und Inhaber des Lehr- stuhls für Viola da Gamba an der Univer- sität Mozarteum Salzburg.

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