Tage Alter Musik – Almanach 2015

42 Kurz nachMitternacht sind die letzten Tö- nedes„Magnificat“inderkargenundhalli- gen Dominikanerkirche verklungen. Das Publikum zeigt sich erschöpft, überglück- lich,unendlichdankbar.DieTage AlterMu- sik in Regensburg sind ein notorisch neu- gieriges Festival,dasjetztzumeinunddrei- ßigsten Mal stattfand; alle fünfzehn Kon- zerte über Pfingsten waren ausverkauft. Und diesmal ist auch wieder ein Coup ge- lungen: Das Festival hat mit Claudio Mon- teverdis „Marienvesper“einesder bekann- testen Stücke geistlicher Musik in einem dreizehnstündigen Hörmarathon völlig neu durchdacht und ihmzudem jene spiri- tuelleundkathartischeDimension zurück- gegeben, die im bürgerlichen Konzertall- tag längst verloren gegangen ist. DieMarienvesperwurdeaufdreiKonzer- te verteilt. Monteverdis Musik – das zeigte sich im Kontrast zum restlichen Pro- gramm– spricht nicht so sehr zu denMen- schen, sondern zu Gott. Und die zuhören- den Menschen staunen diese Sphärenhar- monie wie eine Himmelserscheinung an. ImJahr1610publizierteMonteverdi zuEh- ren der Muttergottes seine erste große Sammlung von Kirchenmusikstücken, be- stehend aus einer Mess- und einer Vesper- vertonung, sowie einigen geistlichen Kon- zerten.VomGesangssolo biszur Zehnstim- migkeit mit oder ohne Instrumente findet sich hier jede denkbare Besetzung. Monteverdis Einfallsreichtum, dem nur noch Johann Sebastian Bach Paroli bieten konnte, verblüfft selbst abgebrühte Ken- nerimmerwieder aufsNeue. EswarenAuf- führungen dieser Musik, in denen die Be- wegungder„historischenAufführungspra- xis“einstheranreifte;keinerkommtandie- semWerk vorbei. Allerdings wird bei Auf- führungen wie auf CD-Aufnahmen die alt- modisch klingendeMesse oft fortgelassen, während die geistlichen Konzerte nach den Vesperpsalmen eingefügt werden. Aberesgeht auchanders,wie derMusik- forscher und Musiker Joshua Rifkin jetzt in Regensburg beglückend bewies. Rifkin, geboren 1944 inNewYork, ist vielleicht der größte Radikale unter den Dirigenten. Berühmt wurde er in den Achtzigerjahren, als er die These in die Welt setzte, dass die großen Vokalwerke Johann Sebastian Bachs nur von Sängersolisten aufgeführt wurden, die auch die Chorpassagen san- gen. Bis heute wird Rifkin deswegen ange- feindet, aber immer mehr Dirigenten schwenken aufdiesePraxisein.Wenigver- wunderlich also, dass Joshua Rifkin jetzt auch – gegen eine weitverbreitete Praxis – ClaudioMonteverdis Marien-Musiken nur mit einer exquisiten Solistentruppe auf- führt. Denn wo ein Chor immer Weich- zeichnung und Entindividualisierung meint, kann ein Solistentrupp sehr viel de- tailgenauer und lebendiger musizieren. Musik für Gott und Menschen In Regensburg ereignete sich das Wunder Monteverdi g g Vor allem aber zeigt sich in dieser Ge- samtaufführung des Drucks von 1610, dassdasGenieMonteverdihiereinemusik- geschichtliche Gesamtschau liefert. In der Messe erweist er seinen Vorgängern Reve- renz, immer wieder verweist dieMusik auf JosquinDesprez, den größten allerRenais- sancekomponisten. Aber Monteverdi ist nicht altmodisch. Er tut nur so – und ver- birgt unter demDeckmantel des alten Stils die von ihmbetriebene Avantgarde der ab- soluten Texthörigkeit. Deshalb fügt sich dieMesse wundervoll stimmig zu den Ves- perpsalmen,diedietraditionelleveneziani- scheMehrstimmigkeitzurVollendungfüh- ren – aber auch zu den geistlichen Konzer- ten, die in ihrer aufregenden Zerfaserung fester Formen eindeutig Musik der Zu- kunft sind, jedenfalls im Jahr 1610. JoshuaRifkinistabernichtbloßeinrigo- roser Forscher, sondern auch ein lebendi- ger Ensembleleiter, dem seine wissen- schaftlichen Erkenntnisse letztlich nur die Basis sind für die edelste Bestimmung geistlicher Musik: Gott mit dem denkbar größten geistigen und technischen Auf- wand zu loben; und den Teilnehmern ei- nenZugang zu einer vomVerstand nicht zu erfassenden Herrlichkeit zu bieten. Darin waren sich die von der Sopranistin Nele Gramß angeführtenSänger unddie Instru- mentalisten des Concerto Palatino mit ih- remDirigenten Rifkin und dem begeister- ten Publikum völlig einig. Ein Wunder. Im klugen Programmkonzept der Re- gensburger Tage Alter Musik standen dem Monteverdi-Projekt drei Konzerte gegen- über, die die Entwicklung des modernen Konzertwesens dokumentierten. Diese führten von den höfischen Geigensonaten vonHeinrichIgnazFranz BiberüberArcan- geloCorelli, den Erfinder und erstenGroß- meister des Konzerts, bis zur Oboenmusik von Georg Friedrich Händel. Die Oboe war das Lieblingsinstrument des jungen Hän- del, und wer die Solistin Xenia Löffler ihn spielen gehört hat, versteht diese Leiden- schaft. In der historischen Entwicklung wurde so anschaulich, was sich dann bei Händel mit Charme vollendet: Die Musik spricht nunnichtmehr direkt zuGott, son- dernerstmals allgemeinverständlichzual- len Menschen. reinhard j. brembeck Dirigent Joshua Rifkin bei den Tagen Alter Musik Regensburg. FOTO: HANNO MEIER

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