Tage Alter Musik – Almanach 2015

45 Doch das Orchester trat entschlossen und uner- schrocken vor das Publikum und stellte mit Kraus’ Pantomime D-Dur VB 37 klar, dass alle Befürchtun- gen unbegründet waren. Mozarts anschließende Symphonie A-Dur Nr. 29 KV 201 zeigte ein technisch exaktes, spritziges Ensemble, das Hammerflügelkon- zert C-Dur von Vanhal und Wranitzkys Symphonie B- Dur gerieten zum einen so virtuos wie beseelt, zum andern furios: Wenn man etwas kann, dann muss man sich vor nichts fürchten! Der samstägliche Konzertreigen schloss mit einem weiteren Nachtkonzert in der Dominikanerkirche und den britischen Ensembles The Marian Consort und Rose Consort of Viols. Die Musik der englischen Re- naissance von Byrd, White, Parsons und anderen wurde in der typisch englischen Klangästhetik vorge- tragen. Der Pfingstsonntag startete mit einer Matinee im Reichssaal außergewöhnlich. Denn das fünfköpfige Ensemble Stravaganza lud zu einem „Konzert am Habsburger Hof des 17. Jahrhunderts“. Wieder er- klang Renaissancemusik von Biber, Froberger, Schmelzer und Mealli. Und wieder überzeugten die Ausführenden. Charmant wirkte die Temperatur nach Neidhardt 1729, ließ die gelungene Interpretation noch interessanter ausfallen. Das Ensemble Stravan- ganza agierte transparent, packend und frech, ja un- verschämt gut (mit einer ganz hervorragenden Violi- ne von Domitille Gilon) und machte seinem Namen alle Ehre. Zu erwähnen sei hier aber auch das Ri- tardando: Selten habe ich es so perfekt, so beispiel- haft erlebt, wie bei dieser Gruppe; das mag nur ein Detail sein, doch viele Details ergeben eben das Ge- samtbild. Dann folgte das Monteverdi-Triptychon in der Domi- nikanerkirche, der Omphalos des Festivals, zunächst um 14:00 Uhr mit der „Missa da capella a sei voci fatta sopra il motetto In illo tempore del Gomberti“ ( Kyrie – Gloria – Credo – Sanctus – Agnus Dei ), um 17:00 Uhr mit dem „Sacri Concentus“ ( Nigra sum – Pulchra es – Duo seraphim – Sonata Sancta Maria – Audi coelum ) und um 22:45 Uhr mit der „Vespro del- la beata vergine da concerto composta sopra canti firmi“ ( Deus in adiutorium – Dixit Dominus – Laudate pueri – Laetatus sum – Nisi Dominus – Lauda Jerusa- lem – Ave maris stella - Magnificat ). Dieses grandio- se Werk wurde durch zwei Konzerte unterbrochen. Das eine bestritt die Batzdorfer Hofkapelle in der Ba- silika St. Emmeram und mit Werken von Händel, das andere die Harmonie Universelle mit einer „Corelli- mania“. Georg Friedrich Händels Konzert für Oboenkonzert HWV 287, Sinfonia B-Dur HWV 339, Doppelkonzert für Oboe und Fagott HWV deest und die Kantate „Mi palpita il cor“ bzw. „Morirò, ma vendicato“ wurden von den Solistinnen Marie Friederike Schöder (Kolo- ratursopran), Xenia Löffler (Oboe) und Katrin Lazar (Fagott) sehr gut, sehr flott und inspiriert vorgetra- gen. Das hohe Tempo zog sich, wie die absolute Prä- senz Xenia Löfflers, durch das gesamte Programm, in dessen Verlauf sich die Sopranistin von der Opernsängerin endlich zur Kantateninterpretin wan- delte, was dem Vortrag die rechte Würze verlieh. Harmonie Universelle (Solisten waren die überragen- den Mónica Waisman und Florian Deuter, Violine) widmete sich den Concerti grossi und Concerti aus den Federn Vivaldis, Locatellis, Geminianis, Mossis und vor allem Corellis. Mit letzterem begann und en- dete man. Und die mit Bläsern verstärkte Formation verzückte die Zuhörer mit einem überragenden Vor- trag auf höchstem Niveau, packend, hochprofessio- nell vorgetragen, mutig und mit Spielwitz, überra- schend, unglaublich virtuos – ein Barockfest, eines der besten Konzerte in der Geschichte des Festivals. Un sogno – ein Traum! Nach dem in jeder Hinsicht anstrengenden Kon- zertsonntag hatte Phantasm die Aufgabe, in die „150 Jahre Überraschungen im englischen Kontrapunkt – Gambenconsort-Musik im 16./17. Jahrhundert in England“ einzuführen. Der Reichssaal war Austra- gungsort, wie immer voll besetzt (wie übrigens alle Konzerte!). Das Programm mutete zäh an, Tye, Gib- bons. Burd, Purcell und andere, vorgetragen auf fünf Violen. Noch hallte der Vortag nach, noch war man kaum aufnahmebereit, müde, unkonzentriert. Doch Profis wie Phantasm irrittiert dies nicht. Sie stiegen ein, und wie sie einstiegen! Schon nach wenigen Mi- nuten war die Müdigkeit verflogen, das Auditorium hochkonzentriert. Denn dieser Vortrag hier war klar, rhythmisch packend, mitreißend und eben kein „ty- pischer Gambenklang“. Das Ensemble spielte mit Esprit, extravagant, emotional, bewegend, lustig und spritzig, mit einem Wort: super! In die Minoritenkirche pilgerte man dann zum Nach- mittagskonzert und geistlicher Vokalmusik der Re- naissance mit der New York Polyphony. Das sind vier Herren, die sich in kürzester Zeit einen Namen ma- chen konnten. Ihr a cappella Vortrag lebte von den ausgewogenen Timbres der Einzelstimmen und dem delikaten Vortrag, der sich aber erst spät zur wahren Vollendung entwickelte. Das Il Suonar Parlante Orchestra aus Mailand huldig- te der “Barbarischen Schönheit” und dem “osteu- ropäischen Einfluss in Konzerten von Telemann, Jirá- nek, Graun und Hasse”. Neben dem Leiter Vittorio Ghielmi traten Dorothee Oberlinger (Blockflöte), Graciela Gibelli (Sopran), Alessandro Tampieri, Stano Palùch (Violine) und Marcel Comedant (Cimbalom) als Solisten vor die Hörer. Während schon der erste Teil des Konzerts mit Telemann, Jiránek und Graun mitriss und spektakulär ausfiel, setze man nach der Pause mit Hasse, vor allem aber mit der vom Ensem- ble arrangierten Suite „Barbarische Schönheit“ (und Werken von Telemann, Vivaldi und Benda sowie aus der Tanzsammlung Uhrovec) einen weiteren Höhe- punkt der diesjährigen Tage Alter Musik. Dieser Vor- trag war so überraschend wie spielfreudig, riss die Hörer mit und von ihren Sitzen – bravi!! Die Botschafter, Les Ambassadeurs, luden in die Drei- einigkeitskirche an der Gesandtenstraße. Nach dem Konzert wies der Leiter der Gruppe, Alexis Kossenko, auf dieses nette Detail im kleinen Kreis seiner Musi- ker hin. Denn um die Kirche lag einst auch der Fried- hof der Botschafter, der Gesandten, wovon die vielen geretteten Grabmäler in der Minoritenkirche heute noch zeugen. Musik aus Dresden zu August des Star- ken Zeit stand auf dem Programm, Kompositionen von Vivaldi, Pisendel, Quantz, Telemann, Zelenka und Heinichen. Als Solisten agierten Zefira Valova (Violi- ne), Alexis Kossenko, Anna Besson (Traverso), Lidewei De Sterck, Clara Geuchen (Oboe), Anneke Scott, Jo- seph Walters (Horn) sowie Monika Fischalek und Karl Nieler (Fagott). Der starke August liebte die Schwel- gerei über die Maßen und selbstredend eine der an- genehmsten Beschäftigungen damals: die Jagd. Dementsprechend verlangte der sächsische Kurfürst und polnische König nach Hörnerklang im Orchester. Und seine Komponisten und Musiker erfüllten ihm gerne diesen Wunsch. So klingt die Barockmusik aus Dresden unglaublich reich und prächtig, vor allem, wenn sie so gespielt wird, wie dies im Abschlusskon- zert geschah. Dieses Konzert war Spannung pur, vom Anfang bis zum Schluss, spritzig, traumhaft beseelt, die Stimmgruppen gut ausbalanciert, mit ganz her- vorragenden Hörnern, perfekter Tempowahl – natür- lich führte dies zu bravi! Auch dieses Konzert zählt mit zu den besten, die ich je in Regensburg gehört habe. Wer unterbrach nun wen? Monteverdi die Barock- musik oder umgekehrt? Warum die Aufsplitterung der Marienvesper auf drei Teile? Zumal die einzelnen Konzerte sich dann teilweise im Bereich von 30 bis 45 Minuten Aufführungsdauer bewegten… Das Programmheft konnte einige Fragen bereits im Voraus klären. Erstmals in der Geschichte des Festi- vals kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem Insti- tut für Musikwissenschaft der Universität Regens- burg unter der Federführung von Frau Prof. Dr. Kate- lijne Schiltz und ihren Studentinnen und Studenten, die im Rahmen des Seminars „Schreibwerkstatt: Ta- ge Alter Musik“ sehr erfolgreich Texte für das Pro- grammheft erstellten. Dieses Novum, so hoffe ich, sollte als permanenter Festivalbeitrag Einzug halten, denn die Texte waren so informativ wie lesenswert und durchaus flott und weit entfernt von Sixtus Beckmesser verfasst. Monteverdi hatte also 1610 tatsächlich drei Teile veröffentlicht, von denen zwei zur „Marienvesper“ zusammengefasst werden. Und jetzt also, weit nach Mitternacht, Schweigen und Stille am Ende eines bewegenden Konzerts. Jos- hua Rifkin hatte sich erneut als radikaler Purist prä- sentiert, hatte sich strikt an die Vorlage Monteverdis gehalten, jede Stimme nur einzeln besetzt. Dafür en- gagierte er Gerlinde Sämann und Nele Gramß, für die erkrankte Maria Cristina Kiehr (Sopran), David Mun- derloh, Tore Tom Denys (Countertenor), Julian Pod- ger, Jan Van Elsacker, Benedikt Heggemann (Tenor), Harrry van der Kamp, Markus Flaig (Bass) sowie das Concerto Palatino mit Armin Köbler, Johanna Wag- ner (Traverso, Blockflöte), Bruce Dickey, Doron Sher- win, Gawain Glenton (Zink), Charles Toet, Simen Van Mechelen, Wim Becu (Posaune), Veronika Skuplik, Judith Steenbrink (Violine), Franciska Anna Hajdu, Sophia Anagnostou, Florian Schulte (Viola), Balázs Máté (Basso di viole da brazzo), Ann Fahrni (Contra- basso da gamba) und Marcin Szelest (Truhenrogel). Solistische Besetzung also, doch Joshua Rifkin ging noch weiter. Er erließ ein Diminuierverbot für die Zinken und er behielt ein konstantes, zügiges Me- trum bei: keinerlei Abweichung, keinerlei Späßchen sollten Monteverdis Urtext verfälschen. Damit ent- fernte er sich komplett von den bisherigen Interpre- tationen, welche keineswegs auf Agogik verzichten wollten, was man im Publikum später mit Fehlen des „Mediterranen“ oder „Italienischen“ bezeichnen soll- te. Aber auch bei der Dynamik war man irritiert: Die bislang so angenehme Klangbalance war aufgege- ben, manchmal zerstört; die Violinen gingen unter, der cantus firmus war zu leise. War er das wirklich? Hatte man sich einmal einge- hört, auf Rifkins radikal neues Konzept eingelassen, dann hatte man vielleicht das gleiche Damaskuser- lebnis wie damals vor dreißig Jahren, als Rifkin Bach entschlackte und die solistische Aufführungspraxis ihren Anfang nahm. Es war eben nicht zu leise, da gingen keine Klangfarben unter, sondern mischten sich neu – und herzerweichend schön! Konnte dem das Publikum folgen? Oder war es über- fordert? Warum diese lange Stille? Ein zaghafter er- ster Applaus, der sofort wieder abbricht. Weiterhin Stille, dann ein kollektiver Seufzer des Publikums. Und nun erst setzt der ersehnte Applaus ein, zunächst plätschernd, dann anschwellend. Das Pu- blikum, völlig entrückt und tief bewegt, findet zurück zu Ort und Zeit, erste bravi. Und schließlich, selten bei den Tagen Alter Musik, Standing Ovations und dies alles zu Recht! Man kann Fakten auflisten, musikwissenschaftlich begründen, aber man kann damit das Phänomen nicht erklären: Warum wachsen die Künstler life in Regensburg stets über sich hinaus? Robert Strobl

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