Tage Alter Musik – Almanach 2016

24 „Erregende Perspektiven“ // Juli/August 2016 // Autor: Martin Hoffmann Ja, es gibt sie, die ›red carpet‹-Festivals, die mit glanzvollen Galas, wichtigen Pressekon- ferenzen und prickelndem Schaumwein er- öffnet werden. Bei den Tagen Alter Musik Regensburg zählt offensichtlich eine andere Währung. Gut so. Der genetische Code die- ses Festivals ist eine Mischung aus Leiden- schaft und ehrlichem Interesse an dem, was sich in der Alten Musik tatsächlich an Per- spektiven eröffnen könnte. Neue Trends, veränderte ästhetische Zielsetzungen, avant- gardistisch-radikale Ansätze, junge Wilde. Wer sie entdecken will, ist in mehr als einem Dutzend Konzerten gefangen in der Span- nung zwischen dem, was sich an Hörge- wohnheiten vermeintlich etabliert hat, und dem, was sich an Unerhörtem neu erfahren lässt. Weil sie offen sind für das Neue, ohne das Bewährte aus den Augen zu verlieren, gehören diese Tage Alter Musik zu den wich- tigsten Veranstaltungen ihrer Art. Hinzu kommt, dass es keiner bemüht elaborierten Toposdidaktik, keiner Jahresmottos und Ju- biläumsgeschäftigkeit bedarf. Die musikali- sche Essenz kristallisiert sich gleichsam in jedem Konzert aufs Neue. Das Eröffnungskonzert mit den Regensbur- ger Domspatzen und dem L'Orfeo Barock- orchester unter der Leitung von Roland Büchner exponierte einen der größten Kom- ponisten überhaupt mit einem seiner größ- tenWerke. Joseph Haydns ›Missa in tempore belli‹, die in ihrer Farb-und Formenfülle ei- nen Kosmos an musikalischen Bildern evo- ziert, kann man sicher auch anders hören, aber gewiss nicht besser, intensiver, tiefgrün- diger! Wie Büchner die Knaben zu kom- mentierenden Einwürfen im Gloria, zu in- sistierenden Rufen im Credo, zu einer bei- nahe fordernd-aggressiven Bitte um den Frieden auf Erden im von Pauken umwirbel- ten Agnus Dei ermutigte, das war großartig und bescherte dem Festival einen Auftakt nach Maß. Schön an diesem Programm war aber auch, dass man mit der ›Alleluja‹-Sym- phonie Nr. 30 (1765) und im fein austarier- ten Solistenquartett des ›Salve Regina‹ (1770), virtuos umspielt von der brillant konzertierenden Orgel, auch den jüngeren Haydn erleben konnte, der die große Welt und insbesondere London noch nicht gese- hen hatte. Tags darauf stellte das fulminant aufspie- lende norwegische Ensemble Barokkanerne unter der Leitung von Alfredo Bernardini zwei Solokantaten Bachs ziemlich exaltierten Orchesterwerken Telemanns gegenüber: Kantate versus Konzert. Doch der Spagat zwischen Sinnlichem und Heiterem gelang, denn Marianne Beate Kielland setzte in den Kantaten ›Vergnügte Ruh‹ (BWV 170) und ›Geist und Seele wird verwirret‹ (BWV 35) ihre Stimme so perfekt in Szene, dass man es als treffliche Symbiose von personal gefärb- ter Sinnlichkeit und technischer Stringenz empfand, ja geradezu als Stimmideal schlechthin. Kiellands Abkehr von der an- drogyn-herben Klangästhetik hin zu mehr Individualität und Intensität der Gestaltung weist in eine neue Richtung. Nur schlank und knabenhaft war gestern. Am Samstag- abend stellte dann Hans-Christoph Rade- mann mit dem Dresdner Kammerchor und Barockorchester Heinrich Schütz und die Psalmen Davids in den weiten Raum der evangelischen Dreieinigkeitskirche. Die mehrchörige Opulenz ergibt sich hier nicht aus einem forcierten Klangrausch, sondern vielmehr aus feinen, wohldosierten Impul- sen, mit denen Rademann seine Capell- und Favoritchöre aktiviert. Letzteren gehören u. a. die Sopranistin Ger- linde Sämann, der Altus David Erler, Charles Daniels als Tenor und der Bassist Lisandro Abadie an, die sich gleichermaßen durch Ex- pressivität und Textverständlichkeit hervor- tun. Rademann erweist sich durchweg als sensibler Klangregisseur, der all die Posau- nen, Trompeten, Zinken, Theorben, Violi- nen, Gamben und auch den Dulzian zu ei- ner farbenreichen und spannenden Liaison zusammenführt: eine sensationelle Klangin- szenierung! Für Festivalbesucher, die am Tag von all dem nicht genug bekommen, bieten die Nacht- konzerte um Viertel vor elf eine weitere Möglichkeit, sich an auratischen Orten, um- fasst von großartiger romanischer und goti- scher Architektur, verzaubern zu lassen. Die spirituelle Kraft solcher Räume wird noch gesteigert und das Glück perfekt, wenn das Prager Tiburtina Ensemble der Musik am Hof des böhmischen Königs Wenzeslaus nachspürt, die italienische Compagnia deI Madrigale mit atemberaubend perfekter In- tonation die wahnsinnigen Harmonien Carlo Gesualdos mit Lust und Leichtigkeit musiziert und das amerikanische Vokalen- semble Cut Circle eine Messe von Dufay, Motetten und Chansons von Josquin und Ockeghem in Klang meißelt, dass einem der Atem stockt. Geht so ein Tag in Regensburg um Mitter- nacht zu Ende, beginnt der nächste schon wieder vormittags um elf. Bei einer Matinee im Reichssaal -hier tagte der Immerwäh- rende Reichstag von 1663 bis 1806 -debü- tierte das junge, sympathische Ensemble La Ritirata aus Spanien mit Tanzmusik, wie sie am Hof der spanischen Vizekönige in Nea- pel erklang, und tags darauf begab sich das famose Gambenconsort L'Acheron aus Lu- xemburg auf einen Streifzug durch die Klangwelt des englischen Renaissancekom- ponisten Anthony Holborne. An der Donau war die türkische Bedrohung über Jahrhunderte virulent. Mit der Vertrei- bung der Türken ging nicht nur in Wien die Türkenmode einher, die sich außer im Ent- stehen der Kaffeehäuser auch musikalisch in einer von den Janitscharen inspirierten Mi- litärmusik niederschlug. In einem exquisiten Programmwidmeten sich das Ensemble Ze- firo und dessen Oboist Alfredo Bernardini solchen Harmoniemusiken mit türkischem Einfluss. InWerken von Michael und Joseph Haydn, Mozart und Beethoven, aber auch von Gaetano und Giuseppe (1) Donizetti zeigte Zefiro eindrucksvoll seine klangliche Vielfalt. – Zephyros wurde im alten Grie- chenland als milder Westwind verehrt, hier jedoch vertrieb die ›kalte Sophie‹ die Musi- ker vom Renaissance-Innenhof des Thon- Dittmer-Palais in die St.-Oswald-Kirche. Aber auch an solchen Tagen mit heftigen Re- genschauern sorgt in Regensburg die Musik für angenehmes Klima.

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