Tage Alter Musik – Almanach 2016

lebte in stürmischen Zeiten. Spaniens Macht und Glorie versank zu seinen Lebzeiten buchstäblich in den Fluten des Ärmelkanals, die Briten eroberten die Weltbühne. Umso interessanter ist es, dass Holborne auch di- verse spanische (An) Klänge in seinen Kom- positionen versteckte. Oder wollte er der spanischen Leitkultur nur seine eigene, in- sulare entgegenstellen? In der Art „wir kön- nen es auch und noch besser“? Spiegelt seine Musik das erwachende englische Selbstbe- wusstsein wider? Wie auch immer, die acht Musikerinnen und Musiker des Ensembles manipulierten das Auditorium schnell und gründlich, war doch jedes Stück für sich eine musikalische Gemme und die Gesamtvor- stellung so mitreißend wie zu Tränen rüh- rend schön. Herzlich empfing Rachel Podger das Publi- kum in der barocken Benediktinerbasilika St. Emmeram zum Frühnachmittagskon- zert. Nach ihrem bemerkenswerten Soloauf- tritt im vergangenen Jahr war die Star- violinistin diesmal mit dem European Union Baroque Orchestra angereist, für dessen künstlerische Leitung sie heuer verantwort- lich zeichnet. Hier spielt Europas Jugend, hier wachsen die Nachfolger heran. Und es ist das wahre Europa, das hier präsent ist, in den Herzen der Künstler aus Großbritan- nien, Italien, den Niederlanden, Polen, Ru- mänien, Deutschland, Spanien und Öster- reich. Hier existiert kein Schengen-Raum, existieren keine innereuropäischen Grenzen. Das ist Europa, das wirkliche Europa; und dies machte Rachel Podger auch sofort in ih- rer launigen Einführungsrede klar, wofür sie zu Recht spontanen Applaus erhielt. Man spielte, inspiriert durch Rachel Podgers Prä- senz, unerschrocken, frisch, technisch per- fekt, musikalisch hochsensibel und von einer Güte, die sich vor den etablierten Orchestern nicht verstecken muss. Wenn Europa auch politisch so harmonieren würde, müsste man sich um dessen Weiterbestand keine Sorgen machen! War es Zufall? Dorthin, wo Rachel Podger im Vorjahr Bibers Mysteriensonaten vor- trug, zog es nun die Zuhörer: in die Pracht des Rokoko und der Alten Kapelle. Dort er- wartete sie ein Konzert mit Les Basses Réu- nies (Frankreich) und eine interessante Frage: Wie seelenverwandt waren Bach und Vivaldi? Vor der kurzen Pause erklangen da- her Werke von Bach, danach die seines Kol- legen Vivaldi. Die Gestaltung des ersten Teils war für mich etwas rätselhaft, nicht nur, ob man es nicht besser mit Leopold Mozart und weniger mit Francesco Geminiani gehalten hätte, deren beider Aussagen zur Verwen- dung des Vibratos unterschiedlicher nicht sein können. Irgendetwas fehlte, etwas, was dann im zweiten Teil plötzlich hervorbrach. Vivaldi war viel lebendiger, schärfer akzentuiert, kontrastreicher gestaltet. Und das Konzert d-moll RV 541, für Alto a la bas- tardo transponiert, wurde von Bruno Cocset sagenhaft gut umgesetzt. Das Konzert g-moll RV 531 für zwei Celli, Streicher und b.c. besaß ebenfalls alles, was man sich er- hoffte: Aggressivität, Virtuosität und dazu kontrastierende Versöhnlichkeit im Largo des zweiten Satzes. Wann erklingt ein Hammerflügel im Kon- zert? Kaum. Endlich waren dessen Töne wie- der konzertant zu hören, in der Aufführung der Sinfonie Nr. 5 h-moll Wq. 182 (H. 661), der Konzerte amoll und ADur für Cello und Orchester Wq. 170 (H. 432) und Wq. 172 (H. 439) und der Triosonate c-moll „Ge- spräch zwischen einem Sanguineus & einem Toccata 63 La Ritirata Foto: Hanno Meier

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