Tage Alter Musik – Almanach 2017

34 regensburg, pfingsten 2017. in regensburg machte zu pfingsten das Wort vom „Delikat- essenladen“ die runde. Damit war nicht die eröffnung eines neuen geschäftes für gour- metfreunde gemeint. es galt dem Festival „Tage alter musik“, das in der Domstadt 2017 vom 2. bis 5. Juni abgehalten wurde – wie immer über die pfingsttage. in diesem Jahr, dem 33. seit der gründung des Festivals, wollten die gründer und seit- herigen Leiter Ludwig Hartmann und Ste- phan Schmid offenbar besonders zeigen, wo für sie die maßstäbe in der interpretation der alten musik liegen. Beim diesmal eher stichprobenartigen Besuch der „Tage alter musik“ reihte sich eine erlesenheit an die andere. Zum Teil beängstigend schöne und perfekte aufführungen, die belegten, dass die interpretation der alten musik eine Welt für sich geschaffen hat. es gibt musiker der originalklang-Szene, die diese extreme professionalisierung schon beklagen und eine ähnliche Kommerzialisie- rung wittern wie im „normalen“ Klassik-Be- trieb. aber um in diese Falle zu tappen, da- für sind Schmid und Hartmann viel zu „alte Hasen“ und schlaue Füchse. Dem Barock- Kommerz gehen Schmid-Hartmann ge- schickt aus dem Weg, indem sie musiker präsentieren, die eigene, neue Wege gehen. Bach solistisch besetzt Das ensemble „alia mens“ aus Frankreich zum Beispiel, in der goldstrotzenden „alten Kapelle“. Die fünfzehn musizierenden boten drei Kantaten aus Bachs Vor-Leipziger Zeit – BWV 12, 18 und 106 – in durchweg solis- tischer Besetzung: je ein Sänger und instru- mentalist pro Stimme. man kann sagen, das haben andere auch schon gemacht. Und ja, die „Tage alter musik“ hatten schon Joshua rifkin zu gast, als er mit dieser Besetzungs- größe noch für aufsehen wie für Kopfschüt- teln sorgte. aber die intensität, der Zugriff, mit dem die solistischen ensembles sich der Bachkantaten annehmen, hat große Fort- schritte gemacht. Der barocke musizierstil ist nun aufgeladen mit persönlicher Leiden- schaft, mit demmut zur größeren geste. Der gedanke, Bach könnte in mühlhausen und Weimar seine Kantaten tatsächlich so aufge- führt haben – ohne Chor, dafür mit vier rundum präsenten gesangssolisten – wird plausibel ohne wenn und aber. auf der CD von alia mens mit den Kantaten 12, 18 und 161 kann man sich auch daheim davon überzeugen. mit ähnlicher perfektion und ebensolchem Sinn für Zusammenspiel und aufeinander- Hören spielte das Zürcher Barockorchester unter der Leitung der geigerin renate Stein- mann in der optisch nicht minder überwälti- genden Basilika St. emmeram. auch dieses ensemble gilt es noch zu entdecken; sein Spiel ist deutlich auf makellosigkeit gerichtet, ohne von der beflissenen routine einer akademie für alte musik oder eines Freiburger Barock- orchesters befallen zu sein. Da erscheint jeder moment neu und frisch zu entstehen. Ziel der Zürcher sei es, so das programmheft, im re- gulären Konzertbetrieb vernachlässigte mu- sik wieder präsent zu machen. Welch ein glück! Diese musik von Telemann und Bach möchte man wirklich öfter hören, und dann sehr gerne so wie in St. emmeram vorgeführt. eine Telemann-Suite (für zwei Blöckflöten und orchester a-moll) und ein Konzert für Blockflöte, Violine und orchester a-moll sind, so gespielt wie vom Zürcher Barockor- chester, gegenstände wahrer Spielfreude zum Vergnügen der Zuhörer. Bach lotete in seinen Kantaten für Solosopran und orchester (BWV 84 und 199) die Tiefen von Seelen- und gefühlsleben – und das machte die inter- pretation von miriam Feuersinger klar – in einem maß aus, das den gefühlsdarstellun- gen des 19. Jahrhunderts nicht nachsteht. auchmit diesemKonzert hatten Schmid und Hartmann ins Zentrum der Leidenschaft für die musik des Barock getroffen. Irische Fassung von Händels Messias ob das mit Händels messias in der „ersten“ Fassung für die aufführungen im irischen Dublin 1742 in fast solistischer aufführung durch das Londoner „Solomon’s Knot Baro- que Collective“ ebenso gelingen würde, da- von waren manche Besucher vor dem Kon- zert in der Dreieinigkeitskirche noch nicht ganz überzeugt. Hinterher schlossen auch sie sich dem begeisterten applaus an. Selbst aus dem in- und auswendig bekannten ora- torien-Schlachtschiff ist Neues, Überra- schendes, so nicht gehörtes herauszuholen. Wie machen die zusammen 23 Sänger und instrumentalisten das? Sie gehen davon aus, dass Händel den „messiah“ in irland etwa in dieser Besetzung – im orchester nur Strei- cher, keine oboen – aufgeführt haben und – als alter opernhase – auf besondere inten- sität der Darstellung gesetzt haben muss. So singen die drei Sängerinnen und fünf Sänger des „Baroque Collective“ alles auswendig, auch die Chorpartien. man sieht ihnen die innere Beteiligung an: Sie wenden sich ganz offen dem publikum zu, sie treten an den entsprechenden Stellen in Dialog miteinan- der, sie verkünden emphatisch, sie jubeln mit Hingabe und zeigen Betroffenheit. Die Chorteile erscheinen als Szenen, in denen sich alle über das in den arien reflektierte verständigen; einzigartig in dieser art die Wucht des Chorsatzes „Behold the Lamb of god“ am Beginn des zweiten Teils, der nun als direkte ansprache und als ganz neues moment imoratorium vernommen wird. in diesemKonzert verband sich ideal und zün- dend die hohe britische alte-musik-Kultur und ihre perfektion mit dem operntempe- rament und der musizierlust der jungenmu- sikergeneration. Das Wort vom „blutleeren“ originalklang kann man getrost vergessen. Spielwitz und Grandezza in dieser Hinsicht haben Briten, Franzosen, Belgier den deutschen Kollegen einiges vor- aus. Das abschlusskonzert mit den deut- schen ensembles „La Capella del Torre“ und „musica Fiata“ unter der Leitung von roland Wilson mit mehrchöriger musik zu einer fiktiven reformationsmesse von Heinrich Erlesene Verlockungen // Autor: Laszlo Molnar

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=