Tage Alter Musik – Almanach 2017

Süddeutsche Zeitung 77 insgesamt sind zehn Varianten des „mes- siah“ überliefert, weil der Komponist die partitur den gegebenheiten des jeweiligen aufführungsortes anpasste. Die Dubliner Fassung ist somit nicht „authentischer“ als andere, aber sie war, unter anderem, auf eine sparsamere Besetzung zugeschnitten, bei der die Solisten auch den Kern des Chors bilden, was die Virtuosität der noch von Händels italienischen Duetten beeinflussten Chor- partien besonders zur geltung bringt. Dass man nicht mehr als acht Sänger und ein ent- sprechend kleines orchester benötigt, um das Werk darzustellen, ist also verbürgt. Doch was „Solomon’s Knot“ an dramati- scher Spannung, tänzerischer eleganz und emotionalen Farben aus dem ehrwürdigen oratorium herausholte, war unerhört im wahrsten Sinne: Wie intimität und Transpa- renz hier jeden pomp überflüssig machten, wie sich das Heilsgeschehen als fesselnde er- zählung verlebendigte, dazu noch komplett auswendig vorgetragen - das riss die Zuhörer am ende buchstäblich von den Sitzen. Ohne Pomp, aber intim und transparent. Die Zuhörer riss es von den Sitzen es ist die Häufung solcher Höhepunkte an historischen Spielstätten, die den ruf des re- gensburger pfingstfestivals in alle Welt ge- tragen hat. Die internationale alte-musik- Szene liebt es, hier aufzutreten, und nimmt dafür bescheidenere Honorare in Kauf (und man sollte bedenken, wie wenig bei all den hochkarätigen und hochmotivierten ensem- bles für jeden einzelnen übrig bleibt, selbst bei zahlungskräftigeren Veranstaltern). Die ehrenamtliche organisation und die nahezu vollständige Finanzierung durch eintritts- karten (zu moderaten preisen) sind im deut- schen Kulturbetrieb längst Legende. Dass das Durchschnittsalter des publikums inzwi- schen fast doppelt so hoch ist wie das der musiker, mag kurios erscheinen, gerade weil sich die sogenannte alte musik hier stets neu als die innovativste und mitreißendste von allen erweist. aber viele Fans kommen nun einmal seit anbeginn. programmschwerpunkte inhaltlicher art er- geben sich bei diesem Festival eher zufällig. in diesem Jahr war das angebot nicht, wie man hätte vermuten können, durch den 450. geburtstag Claudio monteverdis geprägt, dafür aber durch das reformationsjubiläum. es gibt gründe, martin Luther nicht bedin- gungslos zu verehren, doch um die musik hat er sich wunderbar verdient gemacht: an- ders als sein asketischer Kollege Calvin wies er der Tonkunst in der moralischen und re- ligiösen erziehung eine zentrale rolle zu. Nicht zuletzt deshalb nahm die geistliche musik imDeutschland des 17. Jahrhunderts, während der Verheerungen des Dreißigjäh- rigen Krieges und danach, einen beispiello- sen aufschwung. Martin Luther muss man nicht verehren. Aber um die Musik hat er sich verdient gemacht Der aus italien adaptierte „stile concertato“ verschmolz mit dem deutschen, streng kontrapunktischen Stil. Solokantaten und Streichersonaten jener epoche gehören zu den ergreifendsten Hervorbringungen deut- scher musikgeschichte - wenn man sie so darbietet wie das international besetzte en- semble „masques“ aus Kanada. preziosen von Schütz, Buxtehude, Biber, Schmelzer und Johann Christoph Bach wurden durch den geigenton der australierin Sophie gent und die sängerische intelligenz des franzö- sischen Countertenors Damien guillon das, was sie inWahrheit sind: beseelt und vergei- stigt zu gleichen Teilen. italien, die große musikalische inspirations- quelle jener Zeit, wurde hinreißend ver- gegenwärtigt durch die belgische Band „Scherzi musicali“, deren Chef Nicolas ach- ten im Stehen die Theorbe schlägt und dazu singt wie ein Cantautore. Dass er auch als Forscher und entdecker glänzt, bewies das exquisite repertoire weitgehend unbekann- ter „maddalena“-Kompositionen von anto- nio Bertali und Zeitgenossen. Wie fern und doch nah die spanische musikwelt damals dem übrigen europa war, zeigte „La grande Chapelle“ mit philologischem Spürsinn und nobelster Vokalkunst an geistlicher und weltlicher musik von Juan Hidalgo. Wo, wenn nicht in regensburg, kann man an ei- nem einzigen Tag solche Sensationen hören wie die Bachkantaten Nr. 12, 18 und 106, mit grandiosem Tiefgang dargeboten vom fran- zösischen ensemble „alia mens“, und ein programmmit messeteilen und madrigalen des renaissancekomponisten philipp de monte, subtil gestaltet von der tschechischen „Cappella mariana“? es wäre noch etwas über das Finale zu sagen, die „messe zum reformationsfest Dres- den 1617“, aus musik von Heinrich Schütz und michael praetorius kompiliert von ro- land Wilson, einem pionier der auffüh- rungspraxis, mit den gruppen „musica Fi- ata“ und „Cappella Ducale“. Hier nur soviel: Sie alle haben vor Jahrzehnten jene Klang- pracht wieder zum Sprechen gebracht. Was sie jetzt - gereift, aber nicht gealtert - daraus machen, verschlägt einem die Sprache. Ensemble Masques Fotos: Hanno Meier

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=