Tage Alter Musik – Almanach 2022

46 Das Neuste von der Alten Musik hört man immer noch in Regensburg // Autor: Reinhard Mawick Bald werden sie vierzig Jahre alt, die Tage Alter Musik in Regensburg. 2025 ist es soweit. Und die heimliche Königin unter Deutschlands Festivals dieser Art strahlte in diesem Jahr nach Corona-Zwangspause wieder im Glanz der Klänge. Impressionen von dem ewig jungen Musikfest in wunderbaren Mauern. Didelideldüüt – Hilfe, ein Smartphone klingelt! Es ist er Alptraum jedes empfindsamen Konzertbesuchers. Wo ist der rettende Boden, der sich auftut und ihn verschlingt. Nicht nötig, denn Sekunden später respondiert eine Geigerin vom Podium fröhlich: Didelideldüüt, kurze Lacher im Publikum und weiter geht’s im Reichssaal beim Konzert mit dem Ensemble Jupiter und der grandiosen Sängerin Lea Desandre, einer der 16 wunderbaren Aufführungen der diesjährigen Tage Alter Musik in Regensburg (TAM), die erstmals seit 2019 wieder in gewohnter Länge über Pfingsten stattfinden konnten. Doch der Reihe nach: Traditionell begannen die TAM „heuer“ mit einem Auftritt der wohl weltweit bekanntesten Boygroup, die es seit Jahrhunderten in der Stadt gibt, den Regensburger Domspatzen. Auf dem Programm steht häufig Mozart, so auch dieses Mal, und anderem die „Vesperae solennes de Confessore“ KV 339, die sicher zu den interessanteren Werken Mozarts für Soli, Chor und Instrumente gehört, unter anderemmit der berückenden Sopran-Soloarie „Laudate dominum“ – es gibt eine Aufnahme aus dem Jahr 1956, heuer, 66 Jahre später, klang es sehr anders, wie man live im Bayerischen Rundfunk erleben konnte … Das war es dann aber auch schon mit dem einzigen konventionellen Konzertprogramm, denn ab dem späten Freitagabend entfaltete sich eine Perlenkette klingender Kostbarkeiten jenseits des Mainstreams. Oder kennt jemand etwa Jehan Titelouze? Er lebte von 1563 bis 1633, war jahrzehntelang Organist an der Kathedrale von Rouen und gilt als der Begründer der französischen Orgelmusik. Zwar war bekannt, dass er auch Vokalwerke komponierte, doch die galten jahrhundertelang als verschollen, bis 2016 in einer Pariser Bibliothek viele Noten von ihm gefunden wurden. Eine der vier aufgefundenen Messvertonungen erblickte durch das exquisite Ensemble Les Meslanges, das sich der Erforschung und Aufführung dieser neuaufgefundenen Werke verschrieben hat, in Regensburg das Licht der Konzertbühne. Und als die erhabenen Klänge, diese herbe Mixtur von menschlicher Stimme und Blasinstrumenten, durch den Raum der hohen Schottenkirche wehten, begannen sich in den Gedanken des gebannten Zuhörers die Steine der Kirche zu Klang zu verflüssigen, und es formte sich die Frage: „Wach ich, träum ich, oder schwebe ich?“ Anders als seine galant-hochbarocken Nachfolger wie Lully oder Rameau verharrt Jehan Titelouze in einer gewissen Archaik der Harmonik. Zwar befleißigt auch er sich schon reichlich des Quartvorhaltes im Schlussakkord, aber das zeitigt einen ganz anderen Effekt, als den, der ein halbes Jahrhundert später am Hofe Ludwig XIV. in Versailles mutmaßlich erzeugt wurde: weniger galant, sondern eher emotional schillernd. Aber auf jeden Fall faszinierende Musik – gerne mehr davon! Es fällt schwer und mag auch ungerecht sein, ein Konzert bei einem Festival wie den Regensburger Alte-Musik-Tagen ein Konzert zum Höhepunkt auszurufen, aber der heiße Kandidat für Regensburg 2022 ist die Matinee des Ensembles Jupiter mit der Mezzosopranistin Lea Desandre am Pfingstsonntag , das mit demKlingeton (siehe oben). Jedenfalls fand sich der gebannte Zuhörer bei diesem Konzert rasch im Siebten Himmel des Koloraturgesangs wieder, denn in den hatte ihn die noch nicht mal 30-jährige französische Sängerin mit Arien und Concerti von Antonio Vivaldi katapultiert. Ja, Lea Desandre hat eine Wahnsinnsstimme, die gleichsam kontrolliert und mit feinsten Nuancen daherkommt, und dabei technisch keine Grenzen kennt. Den Namen wird man sich merken müssen, denn man wird in wenigen Jahren stolz sagen können: „Ich habe die Desandre schon gehört, als sie noch niemand kannte …“. Schöne, erfreuliche Akustik Absolut kongenial an diesem Pfingstmorgen, an dem reichlich Geist der heiligen Cäcilia ausgeschüttet ward, agierte auch das Ensemble Jupiter. Zwar hatte sich Leiter Thomas Dunford morgen beim Frühstück leicht am Finger verletzt, sodass sein angekündigte Lautenkonzert ausfallen musste. Dafür aber spielte sein Cellokollege Bruno Philippe zwei Sätze aus der Solosuite Nr. 3 C-Dur (BWV 1009), und wie er sie spielte. Mit großer Geste hinter der sich Großes verbarg, so zum Beispiel ein wunderbar seidig-kräftiger Ton und eine hinreißende Gestaltung – man hätte die berühmte Stecknadel hätte allen hören können im Reichstagssaal zu Regensburg, der wieder mal seine besonders schöne und erfreuliche Akustik für Kammermusiken dieser Art beweisen konnte. Dass auch Bruno Philippe erst im nächsten Jahr das dritte Lebensjahrzehnt vollendet, zeigt, wieviel Leben, Qualität und Jugend in der sogenannten Alten Musik steckt. Zum Glück war auch bei diesem sensationellen Konzert von Lea Desandre und dem Ensemble Jupiter der Bayerische Rundfunk dabei, die Übertragung sollte niemand versäumen. Wer es eher etwas norddeutscher als Vivaldi mag, würde vielleicht das Konzert am Vorabend des ersten Pfingsttages zum Festivalfavoriten erkiesen: Das englische Ensemble Alamire unter seinem Leiter David Skinner sang den ganzen Abend Praetorius, wohlgemerkt: Hieronymus Praetorius (1560-1629), ein Zeitgenosse von Michael Praetorius (1571-1621), aber im Gegensatz zu diesem weder mit einem Weihnachtssatz weltberühmt (Es ist ein Ros entsprungen), noch mit ihm irgendwie verwandt oder verschwägert, Musikalische Pfingsten an der Donau

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