Tage Alter Musik – Almanach 2023

Tage Alter Musik Regensburg 2023 37 in seinen frühen Leipziger Jahren entstanden. Zwei davon, BWV 8 und BWV 127, gehören zum älteren Typus der Choralkantaten, bei denen der gesamte Text auf sämtlichen Strophen eines Kirchenliedes beruht. Vier Gesangs-Solisten bestritten sowohl Choräle als auch Arien und Rezitative aufs Beste, Soloinstrumente wie Traversflöte, Oboen und Blockflöten umrankten hochvirtuos die durchwegs ausgezeichneten Sänger. Von der Angst vor dem Sterben handeln diese Kantaten, aber sie geben immer einen hoffnungsvollen Ausblick: Doch weichet, ihr tollen, vergeblichen Sorgen! Mich rufet mein Jesus, wer sollte nicht gehen? Klangeffekte wie Sterbeglöckchen in der intensiven Sopranarie (eingesprungen hier Hannah Ely), festliche Posaunen in der Bassarie: alle Affekte eines Stückes sind sofort da, das Tempo schwingt. Perfekter Bach in der Alten Kapelle. Für den Klang des katholischen Südens Deutschlands und Österreichs und für noch so viel Anderes stehen die Mysterien- oder Rosenkranzsonaten Heinrich Ignaz Franz Bibers, der im 17. Jahrhundert Kapellmeister am fürsterzbischöflichen Hof in Salzburg war. Diesem Zyklus aus 15 Sonaten für Violine und Basso continuo waren eigentlich drei Konzerte und ein wissenschaftliches Symposion gewidmet. Im Fünferpack kommen die Sonaten daher, erst der Freudenreiche Rosenkranz, dann der Schmerzhafte und der Glorreiche. In einer Prachthandschrift der Stabi in München sind sie überliefert, und Meret Lüthi aus Bern spielte weitgehend aus diesem Faksimile. Das ist Musik für Spezialisten, hat doch jede der Sonaten eine eigene Scordatur, also quasi verstimmte Saiten in immer wieder anderen Kombinationen bis hin zu einem Akkord in C-Dur. Eine Frau spielt alle Geigen Andere Barock-Violinvirtuosen reisen da mit fünf Geigen an, Lüthi spielte (fast) alle Sonaten auf ihrer Stiftungs-Stainer-Geige und musste von Sonate zu Sonate umstimmen, sehr oft auch zwischen den Sätzen nachstimmen. Verständlich, aber für den Hörer anstrengend, nicht auch aus der Stimmung der hochkonzentrierten Musik zu kippen. Mit ihrem Ensemble Les Passions de L’Ame hatte sie einen überbordend besetzten Basso continuo zur Verfügung. Besonders ergreifend und intensiv gelang ihr zum Schluss die Schutzengel-Passacaglia für Violine senza basso, ein etwas anders geartetes Anhängsel der 15 Sonaten, wie die erste Sonate zur Verkündigung wieder in Normalstimmung. Stellen Sie sich vor: Einmal im Jahr veranstalten Privatleute ein Festival, zu dem tausende Besucher anreisen. Die besiedeln aber nicht die Grünflächen und feiern wilde Partys im Freien. Nein: Sie verziehen sich in die schönsten Kirchen der Stadt, lauschen dort wunderbarer klassischer Musik, die mit historischen Instrumenten unfassbar kunstfertig aufgeführt wird. Sie mieten sich in Hotels ein. Nicht in den billigsten, nein, sondern in denen, die am schönsten liegen. Und sie gehen drei Tage lang essen, bringen Knete in die Stadt und freuen sich darüber, wie schön doch Regensburg liegt (das wusste ja schon Geheimrat Goethe) und wie gut doch das mittelalterliche Ensemble zumKulturgenuss passt. So geschehen, wie jedes Jahr, an Pfingsten: Die Tage Alter Musik sind wirklich eine Freude. Ich gehe gerne hin. Umso mehr ärgert es mich, dass sich Regensburg an diesemWochenende eben nicht von der Schokoladenseite präsentiert. Überquellende Mülleimer in einem Ausmaß, wie ich sie auch in den Zeiten kurz nach demCoronaVerbotswahnsinn nicht gesehen habe, „zieren“ den Weg der Passanten. Ich finde das blamabel und schäme mich für die Stadt. Und ich frage mich auch: Wieso gibt es Menschen ohne Arbeit in dieser Stadt – aber auch Arbeit ohne Menschen? Regensburgs Schokoseite? MZ-Serie: Rengschburg mit allem | Autor: Christian Eckl | 31.5.2023 Violinistin Meret Lüthi mit Les Passions de l’Âme Foto: Michael Vogl

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