Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

die Musikanschauung (‚alt‘ vs. romantisch, vorindividuell vs. ‚innerlich-existenziell‘) 4 oder das Instrumentarium (‚historisch‘ vs. industriell gefertigt) oder die Musizier- und Aufführungspraxis. Viele glauben, die heiklen Fragen der Periodisierung nach Epochen umgehen zu können, indem sie pragmatisch die ‚Alte Musik‘ mit einer bestimmten Aufführungspraxis verbinden, für die zunächst ein- mal das – ‚historische‘ – Instrumentarium ausschlaggebend ist. Kann man sich nicht einfach mit der Formel begnügen „Alte Musik = Musik, die mit historischen Instrumenten gespielt wird“? Doch auch dieses ‚pragmatische‘ Kriterium ist nicht so trennscharf wie erhofft. 5 Erstens sind bei der Entwicklungsgeschichte der einzelnen Instrumente die Zäsuren keineswegs so eindeutig, auch spielt der Unterschied zwischen ‚Originalinstrument‘ und ‚Kopie‘ eine Rolle. Zweitens stellt sich die Frage, wie konsequent solche ‚historischen Instrumente‘ eingesetzt sein müssen (wenn z.B. ein Bach-Oratorium mit großem gemischtem Chor, Originalklangorchester und modernen Blasinstrumenten aufgeführt wird oder Roger Norrington in seinem ‚modernen‘ Orchester nur auf alten Blechblasinstrumenten besteht?). 6 In den letzten Jahren versuchte man sich von der Frage des Instrumentariums mehr auf die Probleme der Spiel- und Aufführungsweise umzuorientieren. Kann nicht ein modernes Orchester in der Interpretation ‚historisch‘ wirken (Norrington)? Und umgekehrt: Kann nicht ein historisch instrumen- tiertes Ensemble in der Werkauffassung ziemlich konventionell agieren? Was aber macht die historische Aufführungsweise überhaupt aus? Die Spieltechnik? Besetzung? Auffassung? Artikulation? Agogik? Improvisation? das Tempo? der Klang? Was heißt schon ‚historisch‘ – wie viel oder was muss an einer Aufführung historisch sein, um als ‚historisch‘ gelten zu dürfen? Roger Norrington als ‚Inhabitant of the both worlds“ verbringt die eine Hälfte seiner Zeit mit modernem Orchester, die andere mit sog. his- torischer Aufführungspraxis, und kommt zu dem Schluss: „You could do a historically informed per- formance of a Bach suite on a steel band. It would be historically informed, in the sense that it had the right speed, the right phrasing, the right feel“. 7 Dass die Begriffe ‚historisch‘, ‚authentisch‘ oder ‚original‘ (und ihre englischen Entsprechungen ‚histo- rical‘, ‚authentic‘, ‚period‘, ) zu prätentiös seien, ist grundsätzlich und detailliert in der sog. Authentizitätsdebatte (der 80er Jahre) diskutiert worden, weshalb problembewusste Vertreter der Szene (vor allem in den USA) schon früh den Begriff ‚historisierend‘ bzw. ‚historisch informiert‘ („historically informed performance‘, abgekürzt ‚HIP‘) vorgeschlagen haben: Es gehe nicht um eine Wiederherstellung historischer Bedingungen, sondern um den Versuch einer sich annähernden Rekonstruktion, wobei neben den historischen Bedingungen auch andere (gegenwärtige) zu beachten seien. Ist mit diesem bescheideneren Anspruch die ‚fundamentalistische‘ Auffassung des Historismus und Authentizismus zurückgenommen? Oder handelt es sich nur um eine verbale Retusche? Diese für das Selbstverständnis der Bewegung zentralen Fragen lassen sich am besten auf dem Hintergrund der sog. Authentizitätsdebatte stellen, welche die wichtigsten Argumente und Gegenargumente ausgetauscht hat. Die Authentizitätsdebatte Die Resümierung lohnt sich auch deshalb, weil die Debatte schon länger zurückliegt (80er Jahre) und sich auf den angelsächsischen Bereich bzw. auf Amerika beschränkt hat. Speziell in Deutschland wurde sie mit erstaunlicher Zurückhaltung aufgenommen, ja weitgehend ignoriert. Die Frühphase der Alte-Musik-Bewegung seit den 20er Jahren und der Neueinsatz nach dem Krieg waren von einem Historismus geprägt, der von der Musikwissenschaft fördernd und wohlwollend 12

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