Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

begleitet wurde. In den 80er Jahren ist der Historismus maßgeblich in Amerika einer Kritik unterzogen worden, die aus den Kreisen der Bewegung selbst formuliert wurde. Der Wortführer der Kritik, Richard Taruskin 8 , selbst künstlerisch-praktisch der historical performance zugeneigt, hat auf dem denkwürdi- gen Boston-Symposium 1983 (‚Authenticity and Early Music‘) eine lebhafte musikwissenschaftliche Debatte 9 vom Zaum gebrochen, die in Fachzeitschriften (‚Early Music‘, ‚Historical Performance‘, ‚Performance Practice Review‘) und einer Reihe von Fachtagungen fortgeführt wurde. Auf historisti- scher Seite argumentierten Musikologen wie Donington, Jackson, Brown, Lockwood, Zaslaw, als Gegner meldeten sich u.a. Crutchfield, Dreyfus, Leech-Wilkinson, Tomlinson und Taruskin zu Wort. Die Position der Authentizitätsbefürworter ließe sich wie folgt umschreiben: Der musikalische Gehalt wird am ehesten vermittelt, indem das ‚wahre‘ Werk (nach Text und Klang) – gegen verfälschende Aufführungstraditionen und Rezeptionen – in den Mittelpunkt rückt, die ursprünglichen Aufführungsbedingungen (alte Instrumente, Besetzung, Spielweise, akustische Gegebenheiten) wieder- hergestellt und die Absicht des Komponisten (durch entsprechenden wissenschaftlichen und künstleri- schen Einsatz) rekonstruiert werden. Die Kritiker des Historismus würden schon aufgrund der Quellenlage (etwa im Mittelalter) die Möglichkeit einer solchen Wiederherstellung, soll sie einigermaßen vollständig und überzeugend sein, bezweifeln. Und selbst dort, wo die Quellenaussagen eindeutig sind, würden Praktiker der Alten-Musik- Szene sich nur zu oft darüber hinwegsetzen, viele Gepflogenheiten der ‚historischen‘ Aufführungspraxis seien daher wissenschaftlich nicht korrekt. 10 Den ursprünglichen Werkgehalt (die Intention des Komponisten) würden sie für unfixierbar, veränderlich und letztlich unergründlich, überschüssig halten. Schließlich vermittle sich der authentische Gehalt von lebendiger (unmusealer) Kunst nur über die Kommunikation zwischen der Persönlichkeit des reproduktiven Künstlers mit seinem gegenwärtigen Publikum. Im historistischen Umgang mit Werken der Vergangenheit werde seinerseits ein historisches Phänomen gesehen, ein modernes Sich-Hineinversetzen in exotische, frühere Zeiten, das zudem – romantisch – die Ursprünglichkeit autonomer Kunst beschwört. Wird das Authentizitätsideal auf solche Weise in das Reich der Utopie und Ideologie versetzt, kann man sich nicht wenigstens mit einer Annäherung an das Ideal bescheiden? Auch hier setzt Skepsis an: Es gibt keine partielle oder angenäherte Historizität (ein Ritter mit echter Eisenrüstung und MG ist Fantasy- Figur). Außerdem würde zu den wiederherzustellenden Bedingungen weit mehr als die Aufführungspraxis im engeren (technischen) Sinn gehören: der gesamte gesellschaftliche Raum von Kulturerfahrung (etwa die Religiosität zur Zeit Bachs) ist unwiederbringlich verloren. Schließlich muss die Dialektik des ‚Historischen‘ noch tiefgreifender gefasst werden: Was heute als historisch wirkt (fremd, exotisch, abgerückt), ist in dieser seiner Wirkung gerade unhistorisch. Der Hörreiz eines alten Oboenklangs ist als solcher ein modernes Phänomen. So dialektisch verhält sich jeglicher Vergangenheitsbezug. Durch die Debatte war jeglicher naive Historismus kompromittiert, auch wenn der CD-Markt werbe- strategisch nach wie vor auf ‚authentischen‘ ‚Originalklang‘ setzte und Fachwissenschaftler unbeein- druckt wirkten. Wie sollte die Alte-Musik-Bewegung mit diesem desillusionierenden Ergebnis umge- hen? Ein Zeichen dafür, dass man gewillt war, die historistischen Ansprüche und Ideale zurückzuneh- men, waren die Versuche, terminologisch nur noch von „sog. historischer“ oder „historischer“ (mit Anführungszeichen) und schließlich von „historisierender“, „historisch informierter“ Aufführungspraxis (HIP) zu sprechen. Abgesehen davon, dass sich die Terminologie nur innerhalb von 13

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