Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

VII. „Crossover“ Alte Musik und 20. Jahrhundert Die Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert hat die Alte-Musik-Bewegung vor viele offene Fragen gestellt. Vieles ist erreicht, die Musikgeschichte bis 1800 ist zumindest auf dem Tonträgermarkt weitge- hend von ihr dominiert. Ihr Verhältnis zur Musikgeschichte nach 1800 ist trotz vieler erfolgreicher Vorstöße noch ungeklärt, was nicht nur an institutionellen und marktbedingten Gründen liegt (Überge- wicht des herkömmlichen Musikbetriebs, Ausbildungssituation), sondern auch mit ihrem Selbst- verständnis zusammenhängt. Die Alte-Musik-Szene hat ihr Verhältnis zum 19. und 20. Jahrhundert noch nicht geklärt. Der durchschnittliche Alte-Musik-Hörer und auch -Künstler scheint sich doch an der vor- klassischen Musik zu orientieren und gegenüber der sog. Moderne ein gewisses Ressentiment zu besit- zen. Andererseits schließen sich Alte-Musik-Interesse und Offenheit gegenüber neuerer bzw. Neuer Musik nicht notwendigerweise aus. Dies haben die überzeugenden Vorstöße ins 19. Jahrhundert gezeigt. In welchem Verhältnis die Alte Musik und historische Aufführungspraxis zum 20. Jahrhundert stehen könnte, für diese Fragestellung kann die Festivalgeschichte zumindest einige Anregungen geben. Inwieweit historische Prinzipien und ästhetische Auffassungen der historischen Aufführungspraxis über Richard Wagner hinaus auf die neuere Musikgeschichte übertragen werden können, dafür gibt es in der augenblicklichen Alte-Musik-Szene nur wenige Ansätze, zumal der Begriff Alte Musik und ‚historisch‘ irgendwann (für das 20. Jahrhundert) aporetisch wird. Aber warum, möchte man fragen, sollte nicht die gesamte Musiktradition – historisch fortschreitend – aufgrund der inzwischen gewonnenen Interpreta- tionserfahrungen ‚neu aufgerollt‘ werden? Wovon in jedem Fall auszugehen ist: Die Ästhetik der historischen Aufführungspraxis hat mehr Berührungspunkte mit modernen Hörgewohnheiten, als man es vom Authentizitätsideal her ursprüng- lich gedacht hatte. Lässt man eine Vielzahl von Festivalkonzerten Revue passieren, so verstärkt sich der Eindruck, dass rhythmischer Drive, schnelle Tempi und Überartikulation durchaus aus Erfahrungen der Pop-, Rock- und Crossover-Szene stammen. Bei einigen Barock-Ensembles (von Il Giardino bis Red Priest und I Furiosi) und auch Renaissance-Gruppen scheint dies augenfällig. Renaissance-Gruppen, die ohnehin aus dem undefinierbaren Repertoire der traditional music (Volksmusik) schöpfen, haben sich in ihrem Klangbild gerne Anleihen bei modernen Folkmusik-Attitüden genommen. Ganz abgesehen von dem (jüngeren) Phänomen, dass Künstler der Alte-Musik-Bewegung auch noch in Pop-, Rock- bis hin zu Punk-Bands mitwirken. Es gibt also so etwas wie eine implizite Nähe von historischer Aufführung und modernen Hörgewohnheiten, der man genauer nachgehen müsste; ebenso der Frage, inwiefern die ‚fremden‘, ‚exotischen‘ historischen Klangbilder (von mittelalterlichen Chorälen, alten Instrumenten) ihrerseits eine moderne Hörerfahrung darstellen. Es gibt und gab immer wieder Auftritte in der Festivalgeschichte, die explizit mit solcher Nähe ‚kokettieren‘ und solche Modernität gewissermaßen thematisieren. Gruppen wie Bimbetta, Red Priest, I Furiosi, Bottom’s Dream haben solche Modernisierungen bzw. Annäherungen an den Pop zumindest im Bereich ihrer „Performance“ gewagt. Es gab aber auch Versuche, moderne Ausdruckskunst mit Alter Musik zu verbinden: der Scivias-Chor und sein ‚Hildegard von Bingen‘-Projekt sowie Stockholm Baroque und ‚Christinas Reise‘. Noch unmittelbarer sind musikalische Verknüpfungsexperimente, z.B. 135

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