Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Insider-Kreisen (gerade im angelsächsischen Raum) Durchsetzung versprechen konnte, ist sie für die einen immer noch zu prätentiös, da sie auf das Annäherungsideal abhebt, für andere ist sie zu unverbind- lich, da sie der Beliebigkeit und Unverantwortlichkeit Tür und Tor öffnet. Von der Sache her scheint der Terminus ‚historisch informiert‘ vergleichsweise am passendsten. Abschied vom Historismus Jedenfalls scheint sich innerhalb der Alte-Musik-Bewegung – genährt durch die unsicheren, spekulati- ven und widersprüchlichen Ergebnisse der Musikwissenschaften – Skepsis breit gemacht zu haben, was den Authentizitätsanspruch betrifft. Viele Debattenbeteiligte meinen, dass der Begriff des ‚Authentischen‘ 11 aus seiner Engführung befreit werden müsse: Es sollte über die philologische Authentizität (Texttreue) und die Werkauthentizität sowie über die hermeneutische Authentizität, wel- che die weiteren geschichtlichen Bedingtheiten eines Werks einbezieht, noch hinausgegangen werden. Es müsse der Werkgehalt über seine Rezeptionsgeschichte hindurch in seiner gegenwärtigen Wirksamkeit erfasst werden. Letztlich entscheide der Kunstwille des Interpreten und dessen Kommunikation mit dem Publikum über die Realisierung. Über eine solche Begriffserweiterung sind sich fast alle neueren Einlassungen innerhalb der Alte-Musik-Szene einig. So wie der Begriff des ‚Authentischen‘ drängt auch sein theoretischer Bezugsrahmen, der sog. Historismus, 12 nach einer Klärung. Die im 19. Jahrhundert (Droysen, Leopold von Ranke) wurzelnde Auffassung, die viele Musikwissenschaftler (Schering) beeinflusst hat, beinhaltet folgende Kernaussage: Geschichtliche Phänomene wie z.B. musikalische Kunstwerke sind aus ihren geschichtli- chen Bedingtheiten heraus vollständig zu verstehen, die jeweilige geschichtliche Bedingtheit ist – im Kontrast zu gegenwartsbezogenen Konzepten (Fortschrittsparadigma!) – absolut zu setzen. Dieses Grundverständnis hat weit reichende Folgen: Ein solcher Relativismus ist die theoretische (ideologi- sche) Voraussetzung, um so etwas wie Authentizität anzustreben. Die Musikwissenschaft hat schließlich solche Vorgaben lange Zeit gerne aufgenommen, weil sie damit ihren Geschichtsbezug und jegliches positivistische Vorgehen in der musikhistoriographischen Forschung legitimieren konnte. Nicht nur die Authentizitätsdebatte innerhalb der Alte-Musik-Bewegung hat die Fragwürdigkeit historistischer Ideale zu erkennen gegeben, auch die wissenschaftsgeschichtliche Reflexion legt folglich den Abschied von einem eindimensionalen Historismus nahe. Abschied von der Ästhetik der ‚Werktreue‘? Mit dem historistischen Ideal der Authentizität scheint auch ein ästhetisches Ideal geschwunden zu sein: das der sog. ‚Werktreue‘. Solange es Ziel der musikalischen Reproduktion war, der ‚ersten‘ (wahrhaft historischen, womöglich durch den Komponisten selbst verantworteten) Aufführung möglichst nahe zu kommen, solange konnte man glauben, alle spätere (subjektive und zeitbedingte) ‚Zutat‘ einfach nur abschütteln zu müssen und das einzig authentisch Gesicherte, nämlich den Notentext (mit allen Angaben) für sich sprechen zu lassen – nach dem Motto „Letting the music speak for itself“. Richard Taruskin hat in einem Aufsatz mit jenem Titel 13 die letztlich romantische bzw. neoklassizistische Auffassung plausibel kritisiert, dass nämlich die Aufführung eines Werks ohne (subjektive, gegenwarts- bezogene) Interpretation auskomme und nur die Autorenintention durch die getreue Wiedergabe des ‚objektiven‘ Werks (= Notentext) bewahrt werden müsse. Mit Recht wurde eine solche Auffassung, die immer Angriffspunkte für die Gegner der Alte-Musik-Bewegung lieferte, inzwischen von den meisten 14

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