Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Relativierung des historischen Prinzips birgt aber eine neue Gefahr in sich: den Rückfall in den inter- pretatorischen Subjektivismus. Interpretatorischer Subjektivismus als Ausweg? Das Authentizitätsideal, die historistische Ausrichtung, die Ästhetik der Werktreue und die Wissenschaftsabhängigkeit haben lange Zeit das Selbstverständnis der Alte-Musik-Bewegung geprägt. Wenn nun diese Grundpfeiler derart ins Wanken geraten, ist nicht verwunderlich, dass viele Künstler wieder Zuflucht suchen beim vertrauten Interpretationsideal des Subjektivismus: Authentisch sei nur die gerade präsente Auffassung des Interpreten. Ein Pionier der Alte-Musik-Bewegung ist für diese Rückwendung Kronzeuge: Nikolaus Harnoncourt. Er lässt inzwischen wenige Gelegenheiten aus, sich von der „Authentizitäts-Szene“, worunter er nicht nur die frühe, sondern prononciert die aktuelle Alte- Musik-Szene versteht, weitgehend abzugrenzen und stattdessen für die Interpretationsideale des subjek- tiven ‚Gefühls‘, der ‚Substanz‘ und der ‚Tiefe‘ einzutreten: „Je ‚authentischer‘ man die Werke zu inter- pretieren behauptete, und dies wahrscheinlich sogar glaubte, desto weiter entfernte man sich vom Eigentlichen, vom Sinn der Musik. Man glaubte das gereinigte Kunstwerk darzustellen und bot in Wahrheit einen ausgedörrten Leichnam. /Man beteuert/, durch die Reinigung von Schwulst und Emotion zur wahren Substanz zu führen beziehungsweise zu gelangen; /man/ empfindet überhaupt nichts…“ 16 Oder: „Mit richtiger Intonation, „authentischen“ Tempi und penibler Beachtung der Dynamik ist indes kein hoher Interpretationsstandard erreicht. Das sind selbstverständliche Voraussetzungen auf unterster Ebene /…/ Es fehlt mir dabei alles, was die „Seele“ des Werks aus- macht.“ 17 Die emphatische Begrifflichkeit einerseits und die polemische Abgrenzung andererseits las- sen vermuten, dass dem überkommenen Interpretationsideal des Subjektivismus das Wort geredet wird. Das heißt, man beruft sich bei der Abwertung sog. aufführungstechnischer Fragen auf die Instanz ‚höhe- rer Weihen‘ (subjektiver Emotionalität). Das Fragwürdige daran ist nicht so sehr die Vagheit dieser Instanz, die zu Willkür verführt, sondern vor allem die Missachtung des ‚bloß Technischen‘. Denn damit wird übersehen, dass sich hinter den Fragen der Spiel- und Aufführungstechnik die eigentlich musika- lischen Dimensionen verbergen, dass sich darüber die alles entscheidende Dimension der Klangsinnlichkeit (Musikalität, musikalischen Intelligenz) als Inbegriff von Musik vermittelt. Stattdessen werden außermusikalische Bedeutungsklischees (‚Seele‘, ‚Substanz‘) bemüht, wie sie aller- dings im konventionellen Musikbetrieb üblich sind. In der Abgrenzung vom herkömmlichen Musikbetrieb besteht und bestand allerdings von Anfang an ein wesentliches Motiv der Alte-Musik-Bewegung, das genauso konstitutiv erscheint wie die Ausrichtung an der historischen Methode. Bevor versucht wird, die Rolle der historischen Methode genauer zu bestimmen, soll im Folgenden zunächst diesem zweiten Impetus nachgegangen werden. Alternative zum konventionellen Musikbetrieb Von Beginn an hat sich die Alte-Musik-Bewegung als Alternative zur konventionellen, ‚modernen‘ Aufführungspraxis, also zum sog. Mainstream verstanden. Mehrere Motive waren dabei maßgebend. Neben dem historistischen „Ad Fontes!“ und dem Eifer für wissenschaftliche Beschäftigung, neben dem Interesse an einem neuen Repertoire (statt des Standards aus dem ‚19.Jahrhundert‘) und neuen Aufführungsformen ist es insgesamt ein neuer ‚Lebensstil‘, der die Alte-Musik-Szene prägte und vom herrschenden Musikbetrieb abgrenzte. Trotz zunehmender Etablierung ist der Eindruck einer ‚alternati- 16

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