Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Kulturbetrieb mit seinen ‚Staatorchestern‘ und staatlichen Ausbildungsstätten eine unkreative Beamtenmentalität, Auftragskunst oder pädagogisierte Kunst. Der Vorwurf des ‚mangelnden Ausdrucks‘ von Seiten herkömmlicher Künstler (an die Adresse der Alte-Musik-Szene) wird im Übri- gen zurückgegeben: Die Mainstream-Auffassung decke die Ausdrucksfähigkeit eines Werks, die in den musikalischen Strukturen und Details angelegt ist, zu, und zwar durch bestimmte oberflächliche Schablonen des Sentiments (Pianissimo, Vibrato, Stimmforcierung u. ä.). Umgekehrt lauten die apologetischen Vorbehalte von Seiten des Mainstream: Die historische Aufführungspraxis sei bloße Nischenkunst, kapriziere sich auf einen Ausschnitt der Musikgeschichte, werde damit dem Gesamtanspruch von Musik nicht gerecht. Gleichzeitig wehre man sich gegen das Neue, Innovative als der eigentlichen künstlerischen Herausforderung, und flüchte zurück ins vermeint- lich Verbürgte, Vergangene. Zugleich errichte sie mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Spezialisierung ein Interpretationsmonopol, das ausgrenzend-überheblich wirke. Zudem werde durch die Verwissenschaftlichung, die im Einzelnen oft nur prekäre Ergebnisse zeitigen kann, eine Pseudo- Sicherheit hergestellt, die hinter ihren eigenen Ansprüchen (auf Authentizität) weit zurück bleibt. Durch die pseudo-wissenschaftliche Attitüde grenze man sich aus und immunisiere sich gegen Geschmacksurteile. Die Ansprüche an die Interpretenpersönlichkeit, seine Kreativität, Authentizität und Freiheit würden unterdrückt. Die Vereinseitigung (im Repertoire, im Wissenschaftsanspruch und in der Interpretationstechnik) werde auch Dimensionen der Kunst- und Kulturauffassung nicht gerecht, den religiös-weltanschaulichen und den eigentlich künstlerischen. Damit ist der Hauptvorwurf angespro- chen, den das Feuilleton bei Alte-Musik-Aufführungen bemüht: den der mangelnden ‚Tiefe‘ und ‚Substanz‘, des mangelnden ‚Gehalts‘ und ‚Ausdrucks’. Durch die Kaprizierung auf die Spieltechnik und Aufführungspraxis beraube man sich des musikalischen Gehalts, des authentischen Ausdrucks, der unmittelbar – ohne historische Vermittlung – vom Menschen (Interpreten) ausgeht und so auch den Hörer unmittelbar erreicht. Der mangelnde Publikums- und Gegenwartsbezug wird als weiteres Argument genannt; eine aktuelle Aufführung müsse in erster Linie auf die Hörersituation (musikalisch- technischer Fortschritt), seine Hörgewohnheiten (Intonation, Lautstärke) und Ansprechbarkeit (Erfahrungen mit moderner Musik) reagieren. Auch würden Aufführungstraditionen und kulturelle Traditionen diskriminiert. Gewachsene Strukturen der Kulturpflege, etwa der deutschen Kirchenmusik (Kirchenchöre), der staatlichen Musikinstitutionen (Opernhäuser, Staatsorchester), der Laienmusikbewegung (Laienchöre) und der Musikpädagogik (Musikausbildung und –unterricht), wür- den durch Spezialismus und elitären Interpretationsanspruch in Misskredit gebracht. Die Wogen haben sich in den letzten Jahren zweifellos geglättet, beide Argumentationslinien wirken inzwischen überzeichnet, doch sind sie nach wie vor virulent, solange sich die Szenen getrennt organi- sieren und namentlich die Alte-Musik-Szene sich gegenüber dem ökonomisch viel mächtigeren Mainstream (kommerziell und medial) behaupten muss. Dass die Szenen sich aber nicht nur stärker tole- rieren, sondern wechselseitig durchlässiger werden, dafür gibt es inzwischen viele (prominente) Beispiele. Viele Alte-Musik-Künstler spielen auch modernes Repertoire 20 ; die meisten großen Dirigentenpersönlichkeiten der Alte-Musik-Szene haben auch ‚moderne Projekte‘ übernommen (Norrington, Gardiner, Koopman, Brüggen, Herreweghe, Manze u.a.). Umgekehrt gibt es prominente ‚moderne‘ Künstler, die sich Alte-Musik-Projekten widmen (Cecilia Bartoli, Thomas Zehetmair, Simon Rattle, Victoria Mullova, die Geschwister Labeque u.a.). Die Alte-Musik-Bewegung hat sich – bei nach wie vor bestehenden Divergenzen – in ihrem Verhältnis 18

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