Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

zum Mainstream geändert. Hat sie sich auch selbst, im Inneren, durch den Prozess wachsender Prosperität gewandelt? Musikmarkt und Anpassung Die Alte-Musik-Bewegung hat eine Generationenabfolge erlebt. Nach den ‚Pionieren‘ (der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts) hat eine erste Generation nach dem Krieg (Wenzinger, Leonhardt, Melkus, Harnoncourt) die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich in den 80er Jahren unter einer zweiten Generation (Pinnock, Hogwood, Kuijken, Koopman usw.) ein fulminanter Boom eingestellt hat – mit der Folge, dass der Musikmarkt inzwischen ‚erobert‘ scheint. Dies gilt in jedem Fall für den Tonträgermarkt des vormodernen Repertoires. Noch nicht gänzlich angekommen ist die historische Aufführungspraxis bei den Konservatorien (Schulen) und auch nicht in der gesellschaftlich etablierten Kulturszene (vgl. Fernsehen, politische Feieranlässe, etablierte Festivals und Konzertreihen usw.). Gleichwohl ist die Erfolgsgeschichte signifikant, weshalb viele bereits von einer neuen Gefahr spre- chen: der Vereinnahmung durch den Markt. 21 Die Folgen der Marktmechanismen für die Kommerzialisierung von Kultur sind deutlich absehbar. Ein prosperierender Musikmarkt zieht magne- tisch eine breite Masse von Akteuren an und bewirkt somit Nivellierung und Verflachung, vereinheitli- chende 22 Anpassung an den vermeintlichen Trend. Außermusikalische Faktoren bestimmen die Ästhe- tik (Aura), von der Event-Kultur bis zu den Werbestrategien (etwa mit dem ‚Originalklang‘-Etikett). Vormals unkonventionelle, oppositionelle bzw. kreative Kunst wird vereinnahmt und entradikalisiert. Die Vormacht der elektronischen Medien verändert die Ästhetik künstlerischer Anstrengung durch Perfektionismus und Glättung. Da der Markt sich zu sättigen droht, tritt ein Innovationswettlauf ein. Die Szene sucht kommerziell motiviert nach dem ‚Kick‘ neuer Stimulationen. Innovation wird zum Selbstzweck, es kommt zum ‚rasenden Stillstand‘ (Paolo Virilio), eine neue Beliebigkeit kehrt ein, wie an Phänomenen des „cross over“ (Anleihen bei Jazz, Pop und Weltmusik) ablesbar ist. 23 Ist diese Diagnose für die Alte-Musik-Szene zutreffend? Niemand wird die Gefährdung durch solche Mechanismen verkennen. Natürlich besteht die Dialektik, dass sich auch innerhalb einer zunächst krea- tiven Szene ein Establishment (unterstützt durch kommerziellen Erfolg) herausbildet. Doch muss dies nicht zwangsläufig zum künstlerischen Stillstand führen. Ein Zeichen für die Lebendigkeit der Szene wäre es, wenn sich am jeweiligen Establishment neue, junge Künstlergenerationen reiben. Und in der Tat: Richtet sich der Blick (besser: das Gehör) im unübersichtlich gewordenen Markt auf die Ränder der Szene oder auf die Weiterentwicklung von Künstlerpersönlichkeiten, dann wird man gewahr, dass die Alte Musik-Szene – entgegen dem geschilderten Eindruck – nach wie vor ‚explodiert‘, was Interpretationsvielfalt, Repertoireprojekte, Virtuosität und Inspiration anlangt. Alte Musik = Ressentiment gegen die Moderne? (Adorno) Bei solcher Marktgängigkeit mag sich die Rückerinnerung an die Frühphasen der Alte Musik- Bewegung verlieren und doch scheint es auch heute noch notwendig, sich deren ideologische Erblast bewusst zu machen und Nachwirkungen zu registrieren. Die enge Verbindung mit der Jugendmusikbewegung (Singbewegung) am Beginn der 20. Jahrhunderts (‚Wandervogel‘), der ‚Deutschen Musikbewegung‘ (in den 30er Jahren) bis hin zur Sing- und Gemeinschaftsmusik (musik- pädagogischen Bewegung) der 50er Jahre ist nur allzu vertraut. 24 Die Assoziation von Spielmannsmaskerade und Laute bzw. Rokokoperücken bei Kerzenschein und Cembalomusik stellt sich 19

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