Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

ebenso nachhaltig ein wie das Wissen um eine Bach- und vor allem Schütz-Renaissance (in den 30er Jahren), die ebenfalls ihren ideologischen Bezugsrahmen nicht verleugnen kann: die Projektion einer vorbürgerlichen Vergangenheit, in der kollektiv (Jugendbund- und Hausmusik!) und nicht individuali- stisch, in der volksnah in allen Ständen (Volksmusik!) und nicht elitär abgehoben, in der musikalisch verständlich (einfach) und nicht avantgardistisch verfremdet, in der verbindlich-objektivistisch (Kirchenmusikbewegung) und nicht spätromantisch-subjektivistisch musiziert wurde. Man muss aus den 30er Jahren nur die Programme der Kasseler Musiktage bzw. die Verlagskataloge von Bärenreiter und Kallmeyer zur Hand nehmen, um festzustellen, dass das Repertoire des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend ausgeklammert und im Wesentlichen nur vor-Bachische Musik und Pseudo- Zeitgenössisches aufgeführt wurde. Der historischen Aufführungspraxis mit ihrer historisierenden Attitüde kam hierbei eine signifikante Rolle zu. Diese ideologischen Zusammenhänge hat Th. W. Adorno nachdrücklich kritisiert, indem er z.B. den Begriff vom ‚Ressentimenthörer‘ geprägt hat. 25 Er meinte damit einen Hörertypus, der aus Ressentiment gegen die individualistische, spätromantische und avantgardistische Moderne in eine vorbürgerliche Kultur flüchtet, die ihm verlorene Gemeinschaft, Volksverbundenheit, Verbindlichkeit, Einfachheit und Objektivität versprach. Denkt man an die aktuelle Alte Musik-Szene mit ihren hochambitionierten und innovativen Interpretationsstilen, die auf historisie- rendes Brimborium doch weitgehend verzichtet, so scheint diese geschichtliche Erblast der Frühphasen überwunden. Oder bleibt in der Kernthese Adornos nicht doch ein Rest von Reflexionsbedarf? Enthält die Spezialisierung und Kaprizierung auf ‚alte‘ Musik nicht immer auch ein antimodernistisches Ressentiment? Besteht nicht auch heute noch die Gefahr einer restaurativen Verklärung der Vergangenheit, die Gefahr des Nostalgie-Kommerzes (Mittelalterfeste!) und der Ästhetisierung des Historischen (historisches Ambiente!)? Im heutigen Geschmackspluralismus werden solche ideologie- kritischen Anliegen inzwischen leichter Hand zurückgewiesen. Auch wird – nicht zu Unrecht – solchen Verfechtern der Moderne (wie Adorno) ihrerseits die Ideologie eines Fortschrittskonzepts vorgehalten, das im musikalischen und künstlerischen Bereich (im Unterschied zum technologisch-zivilisatorischen) überwiegend verfehlt scheint. Und doch empfindet der Alte-Musik-Hörer immer wieder Erklärungsnöte, wenn er glaubt, seine vergangenheitsbezogene Passion vor den Ansprüchen der Moderne verteidigen zu müssen. In einem säkularisierten Umfeld vom ‚süßen Kreuzestod unseres Heilands‘ singen zu hören, sich als aufgeklärter Demokrat in Rokokosälen wohl zu fühlen, den klimatisierten Konzertsaal gegen knarzige Kirchenbänke hinter Säulen einzutauschen, der Archaik keltischer Lieder und gregorianischer Gesänge statt modernen Klangwelten zu lauschen, die gebundene (vergleichsweise restringierte) barocke Musiksprache gegen komplexe Musikstile einzutauschen – das alles erklärt sich nicht von selbst. Verschiedene Reaktionen sind auf solche Vorhaltungen denkbar. Man kann den Diskurs frühzeitig durch den Rückzug auf den Geschmackspluralismus beenden, man kann das Fortschrittsparadigma und den Dünkel der ‚Modernen‘ angreifen, man kann aber auch in der Alten Musik – wie die folgenden Kapitel es versuchen – das Gegenwartskritische‚ Moderne‘, das ‚Neue‘, das ‚Postmoderne‘ aufdecken. Gegenwartsflucht oder Gegenwartskritik? Zunächst sollten ein paar Hinweise dafür gegeben werden, dass in der Hinwendung zur (vorbürgerli- chen) Vergangenheit auch gegenwartskritische Potenziale zu finden sind. Der geschichtsphilosophische Streit um das Fortschrittsparadigma, also um die Frage, ob der mensch- heitliche Fortschritt nicht eher eine Geschichte ‚von der Streitaxt zur Atombombe‘ darstelle, sei auf die 20

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