Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Kulturgeschichte hin enggeführt. Die Frage, ob die Musikgeschichte wie alle Kunstgeschichte eo ipso eine Fortschrittsgeschichte sei, scheint mehr als offen. Beispiel: Instrumente. Der modernste Geiger wird ohne Zögern zugestehen, dass eine Jahrhunderte alte Stradivari das beste Instrument ist. Fortschritt beim Instrumentenbau? Der Rückgriff auf alte Instrumente ist keine nostalgische Fluchtbewegung, sondern eine begründete Abkehr von industriell gefertigten Instrumenten, sterilen Massenprodukten. Man ist kein Öko-Romantiker, wenn man gegen- wartskritisch am Klang von Originalinstrumenten – und seien es in Handwerksarbeit hergestellte Kopien – etwas zu Unrecht Verlorenes wahrnimmt: die Naturnähe vorindustrieller Produktionsverhält- nisse, in denen der Handwerker langwierig die geeignetsten Hölzer gesucht hat, um ein hochsensibles Instrument aus natürlichem Material herzustellen. Man muss nicht der nostalgischen Verklärung gezie- hen werden, wenn man umgekehrt dem Fortschrittsapologeten mangelnde Sensibilität gegenüber vor- moderner Überlegenheit vorhält. Zweites Beispiel: Sind die bürgerlichen Institutionen ‚Orchester‘, ‚Chor‘ und ‚Dirigent‘ wirklich Errungenschaften, welche die Vergangenheit vergessen lassen? Der Musiksoziologe Th. W. Adorno 26 ist nicht müde geworden, die Entstehung des modernen Symphonieorchesters mit dem Aufkommen der hochkapitalistischen Industriebetriebe in Beziehung zu setzen, wo der Unternehmer (gegenüber der gleichgeschalteten Mitarbeitermasse) als Produzent industrieller Leistung gilt so wie der Dirigent als eigentlicher Schöpfer der künstlerischen Leistung. Auch den Chor hat er eher als sozialpsychologisches Phänomen (‚Schein sozialer Integration in der Konkurrenzgesellschaft‘), denn als künstlerisches beschrieben. Ist der monumentale Konzertsaal wirklich unverzichtbar im Sinne der sog. Demokratisierung der Kunst? Oder bedeutet der Verzicht auf die Dirigentenrolle und die Reduktion der Ensemblebesetzung nicht die Rückgewinnung künstlerischer Autarkie des Einzelmusikers, den Gewinn einer demokratischen Kleingruppenorganisation, eines schlankeren, transparenteren Klangbildes, einer engeren, organischen Kommunikation aller Mitwirkenden? Auf das kritische Verhältnis der Alte-Musik-Bewegung (als ‚alternativen Szene‘) zum konventionellen Musikbetrieb wurde bereits hingewiesen (s.o.). Dass auch die Musikauffassung, der Rückgriff auf vor- bürgerliches Repertoire und die Art der Interpretation, gegenwartskritische Motive enthält, wird noch zu erläutern sein. Zunächst aber muss dem Eindruck widersprochen werden, Alte Musik sei alt im Sinne von „althergebracht“ und deren Pflege nichts anderes als antiquarische Restauration. Vielmehr erscheint Alte Musik unter verschiedenen Blickwinkeln als eigentlich neue Musik. Alte Musik = neu entdeckte Musik Alte Musik ist nicht althergebrachte, seit langer Zeit tradierte Musik, sondern zunehmend neue, d.h. neu entdeckte Musik. Eine Bilanzierung des bisher Erschlossenen und Erreichten wäre wahrlich imposant; sie kann nur angedeutet werden: die spektakulären Renaissancen eines Monteverdi und Vivaldi, eines Telemann und C. Ph. E. Bach, der Händel-Opern und Bach-Kantaten; die Wiederentdeckung vieler Künstler aus der ‚zweiten Reihe‘ von Ockeghem über Biber zu Zelenka und Fasch; die Neuentdeckung bislang unbekannter Meister aus Renaissance und Mittelalter; die geographische Vielfalt in der Barockmusik von China über St. Petersburg bis Mexiko; die Volksmusiktraditionen von den Appalachen über Schottland bis in den arabischen Raum; ganz abgesehen von den vielen durch Quellenstudien erstellten Ur- bzw. Alternativfassungen. Und es schlummern noch immense ungehobene Schätze in den Bibliotheken eines halben Jahrtausend: Telemanns 2000 geistliche Werke neben 500 21

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