Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Instrumentalwerken, Vivaldis 16 Opern, 60 Messen und 300 Solokonzerte, Händels 40 Oratorien, Palestrinas 700 Messen und Motetten, Desprez‘ 200 geistliche Werke usw. Gegenüber dem Standardrepertoire des überkommenen E-Musik-Betriebs fürwahr: alles neue Musik. Alte Musik = neu interpretierte ‚klassische‘ Musik Die Repertoire-Erweiterung ist das Eine, mindestens ebenso bedeutsam ist der Impuls, das bereits ein- geführte Repertoire der sog. Klassischen oder E-Musik neu zu interpretieren. Die Unzufriedenheit mit dem Interpretationsstil des Mainstream als undifferenziertem Einheitsstil, als etablierter Schablone und überkommenem Klangbild, die Unzufriedenheit mit einem eingefahrenen Konzertleben und unterfor- derndem künstlerischen Niveau, wurde bereits als Hauptmotiv der neueren Alte-Musikbewegung her- ausgestellt. Wichtiger als die Fragen der Authentizität innerhalb der historischen Aufführungspraxis ist dieser gemeinsame Impuls in der Alte-Musik-Szene, Neues zu entdecken und neu zu interpretieren, d.h. nicht mehr und nicht weniger als die gesamte überkommene Musiktradition ‚gegen den Strich‘ (den Vibrato-Strich z.B.) aufzuführen, neu zu beerben. Insofern gibt es auch keine Epochengrenzen für ‚Alte Musik‘. Alte Musik ist neu interpretierte ‚klassische Musik‘. Die Aufdeckung von Klangbildern und Klangfarben innerhalb einer – zumindest museal – vertrauten Musiktradition ist oft metaphorisch mit einem Gemälderestaurator in Beziehung gesetzt worden, der die Patina (der überkommenen Aufführungstraditionen) abträgt, um die leuchtende Frische des Werks zum Strahlen zu bringen. Die Grenze der Vergleichbarkeit liegt allerdings darin, dass der Restaurator in der Tat das ‚ursprüngliche Werk‘ freilegt, während der Musikinterpret das hinter dem Notentext liegende Substrat nur erahnen kann. So viel ist zutreffend an dem Vergleich, dass einerseits die Rezeptionskritik (an überlagernden Aufführungstraditionen) und andererseits die Methode der historischen Rekonstruktion Möglichkeiten eröffnen, Werke der Vergangenheit neu und frisch zu erfahren. Die neue Rezeption ist mehr und etwas anderes als die Restauration von ‚Ursprünglichem‘. Die Renaissance der Antike am Ende des europäischen Mittelalters bedeutete nicht einfach die ‚Nachahmung‘ der Antike, deren Restauration, deren bruchlose Wiederaufnahme. Die ‚Renaissance der Antike‘ gibt mehr über die frühe Neuzeit preis, über deren Gegenwartskritik und Aufbruchsstimmung, als über die Antike. An dieses Geschichtsmodell als Metapher könnte man denken, wenn man die Vergangenheitsbeerbung durch die historische Aufführungspraxis betrachtet. Auch eine musiktheoreti- sche Reflexion macht den Stellenwert des Interpretatorischen deutlich: Jenseits des Werkkults muss überlegt sein, ob nicht jede Komposition erst durch die Reproduktion/Interpretation ihren Rang erhält. Zwischen Werk und Rezeption besteht eine unauflösliche Dialektik. Das beste Werk kann falsch ver- standen, pervertiert (vgl. Beethoven- und Wagnerkult im Dritten Reich!) oder durch Langweiligkeit (konventionell gespielt) oder zirzensisches Starvirtuosentum entstellt werden. Umgekehrt können unscheinbare Werke (eine x-beliebige Telemann-Suite) durch eine zupackende Interpretation aufblühen. Dass die Rezeption/Reproduktion meist wichtiger ist als das Werk als solches, ist eine leider weitgehend überhörte Wahrheit. Namentlich die Musikwissenschaft frönt einem Notentext-Positivismus und einer Kanonbildung, die den Bereich der musikalischen Reproduktion und künstlerischen Wertung geradezu ignoriert. Die neue Interpretationsweise ist eine neue Interpretationshaltung der ‚Klassik‘ gegenüber, eine alterna- tive Ästhetik. Ihre Abgrenzung vom überkommenen pathetischen, schwerfälligen, klischeehaften Interpretationsstil ist zunächst klarer fassbar als die positive Beschreibung dieser alternativen 22

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