Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Interpretationsweise. Ihre Ästhetik müsste musikwissenschaftlich (-theoretisch) erst erfasst werden. Zutreffend, wenngleich vage, ist ihr so umschriebener Eindruck: kreativ-spielfreudig, musikalisch-intel- ligent, abwechslungsreich-transparent, intensiv (gelehrt und quellennah) erarbeitet. In den zurückliegenden Kapiteln wurde versucht, das Gegenwartskritische und den relativen Neuheitscharakter der historischen Aufführungspraxis anzusprechen. Es gab aber auch musikwissen- schaftliche Versuche, die Alte Musik unmittelbar als moderne Musik aufzufassen, als Ausdruck des sog. Modernismus (Taruskin), als Neue Musik (Mahnkopf), als Nähe zur Popularmusik und als postmoder- ne Musik (John Butt). Alte Musik = Ausdruck der musikalischen Moderne? (Taruskin) Richard Taruskin hat nicht nur den Anspruch auf Authentizität musikwissenschaftlich kritisiert (s.o.), sondern er hat gleichzeitig eine noch viel weiter reichende These aufgestellt, die jedoch kaum rezipiert wurde: „Historical performance is the sound of now, not then“ 27 lautet seine lakonische Behauptung, die ohne ihren Kontext ziemlich missverständlich ist. Taruskin geht davon aus, dass die herkömmliche Aufführungspraxis (Furtwängler) ein Rückgriff auf das vormoderne 19. Jahrhundert und seinen Romantizismus sei. Die historische Aufführungspraxis stelle eine Reaktion auf diese ‚romantische‘ Aufführungstradition dar und sei ihrerseits ein letzter Anschluss an die modern(istisch)e Musikauffassung. Mit dieser Auffassung ist der Neoklassizismus (Strawinsky) mit seiner Ästhetik der ‚Neuen Sachlichkeit‘ gemeint. Genau an diese Moderne versuche die sog. historische Aufführungs- praxis wieder anzuschließen: Ihr Ausgangspunkt sei das Prinzip der ‚Werktreue‘, welche das Werk und die Intentionen des Komponisten als ursprünglich, unveränderlich und unerreichbar hypostasiere, dem- gegenüber der Interpret nur die Rolle eines unzulänglichen Dieners einnehme („Letting the music speak for itself“). Die drei Kennzeichen dieses Interpretationsstils seien demnach: erstens strikter Textbezug (Toscanini), zweitens „impersonality“ (Strawinsky) und drittens „light-weight“ (Satie); oder noch kon- kreter werden folgende Charakteristika benannt: „formal clarity and precision“, „emphasize quickness of tempo and mechanical uniformity of movement”, „geometrical, clean sound” (= Neue Sachlichkeit), „counter tenor voices, small forces, period instruments” (= ‚lightweight‘). Die These Taruskins provo- ziert, hat aber auch etwas Triftiges, zumindest wenn man in Betracht zieht, dass Taruskin die Frühphasen der Alte-Musik-Bewegung bis zu Beginn der 80er Jahre vor Augen hat. Kein Geringerer als Th. W. Adorno ist übrigens – ohne dass Taruskin darauf verwiese – ein Gewährsmann für diese Auffassung, da er die Bewegung der ‚Werktreue‘, wie er sie nannte, immer mit der (modernen) Ästhe- tik der ‚Neuen Sachlichkeit‘ (Strawinsky und der Neoklassizismus) in Verbindung brachte. Zumindest für die frühe Phase der Bewegung mag hier durchaus einiges zutreffen, doch die neuere Bewegung seit den 80er Jahren scheint man mit dieser Stilbeschreibung kaum mehr in Übereinstim- mung bringen zu können, was Taruskin bei einem Vergleich der Aufnahmen Leonhardts mit denen von Harnoncourts ersten Aufnahmen bereits einräumt. Er spricht bei solchen neueren Vertretern der Alten Musik von einem ‚postmodernen‘ Interpretationsstil, welcher der Interpretenpersönlichkeit mehr Freiheiten, mehr Kreativität und Vitalität zugesteht. Was ist heute von dieser These zu halten? Ist die Alte Musik ein „avant-garde wing of modern performance” wegen ihres Anschlusses an den Neoklassizismus oder gilt dies tatsächlich – wenn überhaupt – nur für deren Frühphase? In der Abkehr vom Romantizismus hat Taruskin ohne Zweifel ein übergreifendes Wesensmerkmal der historischen Aufführungspraxis wiedererkannt, doch die Identifizierung mit dem Neoklassizismus wirkt spätestens 23

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