Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

seit den 80er Jahren überholt. Noch wichtiger scheint m.E. die Modernitätsthese Taruskins in einem umfassenderen Sinn. Er spricht an anderer Stelle zu Recht davon, dass die Akzeptanz Alter Musik nicht von ihrer „antiquity“ herrühren könne, sondern von ihrer „novelty“ 28 . Was ist das ‚Neue‘ an der Alten Musik‘, was auf den heutigen Hörer so einen auffälligen – manche meinen ‚modischen‘ – Reiz ausübt? Leider haben Vertreter der Alten-Musik-Szene bisher kaum versucht, darauf systematische Antworten zu geben. Gedankliche Anregungen sind schon eher von einem Theoretiker der Neuen Musik zu bezie- hen. Alte Musik = Neue Musik? (Mahnkopf) „Zu den Paradoxien der letzten Jahrzehnte zählt, daß es die historische Aufführungspraxis ist, die die wichtigsten Impulse im Konzertleben liefert und dabei Funktionen übernimmt, die einst der Neuen Musik zugewiesen waren.“ So formuliert überraschend Claus-Steffen Mahnkopf. 29 Ähnlich provokant ist an anderer Stelle 30 sein Blick auf die augenblickliche musikgeschichtliche Situation: „Die „Alte“ Musik ist für uns die neue, und die „Neue“ längst Geschichte, die tonale Musik behütet und verloren.“ Die Musik des 19. Jahrhunderts wird demnach nur noch museal im sog. Klassischen Musikbetrieb ver- waltet – ohne eigentliche Gegenwartsrelevanz. Die sog. Neue Musik (beginnend mit Schönberg und der Wiener Schule) ist nach den bekannten Worten ihres ‚Cheftheoretikers‘ Th. W. Adorno „veraltet“. Mahnkopf bezieht in dieses Urteil die neueste (nachserialistische) Musikentwicklung mit ein, wenn er sie schlicht und einfach als obsolet, „vergleichsweise belanglos“ (innermusikalisch wie gesellschaftlich) bezeichnet. Ausgerechnet der historischen Aufführungspraxis spricht er das Signum des Neuen zu: „Frische, Leben, Ausdruckskraft, Erneuerung, aber auch musikalische Intelligenz, Forschergeist, Mut zum Nicht-Konventionellen, Genauigkeit gegenüber der Partitur, Wiederentdeckung wichtiger Komponisten findet man heute in der sogenannten historischen Aufführungspraxis.“ 31 Nähere Ausführungen zu einer derartig qualifizierten Ästhetik Alter Musik macht Mahnkopf allerdings nicht, sie wäre längst überfällig. Lediglich ein paar Gedankenlinien zeigen die Richtung an: Alte Musik ver- abscheue den (romantischen) Traditionalismus (in der Aufführungspraxis), Pathos und Sentimentalität. Mahnkopf hat in erster Linie die Musik des Mittelalters und der Renaissance im Blick, wenn er von vor- psychologischer Musik spricht, welche nicht – wie die Musik des 19. Jahrhunderts – auf existenzielle Problemstrukturen abzielt, sondern auf Ruhe und Entlastung, gleichzeitig aber das Erlebnis von Dissonanzen als Ausdruck des Leids vermittle. Er sieht drei Kennzeichen der Übereinstimmung Alter und neuester Musik: 1. parametrisches Denken (vgl. Brumel, Tallis), 2. Prädominanz vorkompositori- scher Dispositionen (vgl. Ockeghem) und 3. musikalische Immanenz (jenseits des tonalen Vokabulars). 32 Solche musikalischen Übereinstimmungen zwischen Alter und Neuer Musik jenseits einer bürgerlichen Gefühlskultur sind gewiss interessant, doch bleibt die grundsätzliche Frage im Raum: Warum übt gera- de die Neuentdeckung und Neuinterpretation der musikalischen Überlieferung durch die (wissenschaft- lich) historische Methode einen ästhetischen Reiz auf den heutigen Hörer aus? Auch wenn Mahnkopf jegliches historistische Authentizitätsideal als naiv (epistemologische Unmöglichkeit!) mit Recht zurückweist, bleibt diese Fragestellung in aller Dringlichkeit bestehen. Ob sein Hinweis auf die Situation der ‚post-histoire‘, der Postmoderne, hilfreich ist, welche die Verfügbarkeit alles Geschichtlichen, die „Gleichzeitigkeit des Verschiedenen“, behauptet, muss geprüft werden. 24

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