Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Alte Musik = Nähe zur postmodernen Popularmusik? Die Kultur der Postmoderne ist auf den ersten Blick gekennzeichnet durch eine Gleichzeitigkeit und Gleich-Gültigkeit von kulturellen Traditionen und Impulsen. Man sollte sich vor einem vorschnellen kulturkritischen Relativismus-Vorwurf, der sich nur allzu leicht als Konservatismus entlarvt, hüten. Eine Zustandsbeschreibung könnte folgende Grundzüge herausheben: Die Hierarchisierung von E- und U- Musik ist gewichen, die Aufteilung in traditionelle und gegenwärtige Musik hat keine entscheidende Bedeutung, die Ausweitung der sog. Popularmusik lässt eine plurale, unübersichtliche Kulturwelt ent- stehen, in der Popmusik, Musical und Weltmusik, Crossover und elektronische Musik nicht mehr spar- tenhaft einzuordnen sind, Wertungen mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit und Objektivität werden gemieden. Auf diesem Hintergrund ist die Alte-Musik-Szene in verschiedener Weise deutbar. Immer schon ist die Nähe Alter Musik zur Popularmusik angesprochen worden. Dass der Interpretationsstil bei instrumentaler Barockmusik in gewisser Weise den Hörgewohnheiten bei Jazz, Rock und Pop ähnelt, ist immer wieder aufgefallen. Dabei ist nicht nur an die expliziten Annäherungsversuche im ‚Crossover‘-Bereich zu denken oder an manche Art der ‚Performance‘. Der Charakter vorbürgerlicher Musik trägt (noch) nicht die Last der metaphysisch-existenziellen Aufladung, wie sie der romantischen Musiktradition des 19. Jahrhunderts zueigen ist. Die weltliche Musiktradition ist weitgehend entweder nahe der Folk-Tradition (die Lied- und Tanztraditionen (lais, tarantelle) des Spätmittelalters und der Renaissance) oder verspielt-virtuoses (höfisches) Divertissement (Barockmusik). Der Hinwendung zu ‚Volksmusiktraditionen‘ entspricht eine Tendenz zur Entkanonisierung der musikalischen Überlieferung. An die Stelle der ‚großen‘ Werke in der herkömm- lichen Musikpflege ist ein breiter Überlieferungsstrom getreten, der nun überhaupt einmal entdeckt und interpretatorisch bearbeitet wird. Eine Telemann-Suite steht ‚gleichberechtigt‘ neben einem Händel- oder Bach-Concerto, ein Biber- oder Haydn-Abend neben Mozart-Symphoniekonzerten. „Alte Musik ist Musik mit reduziertem Werkanspruch; man kann ihr ausgesprochen entspannt begegnen.“ 33 Natürlich trägt auch der Interpretationsansatz zu diesem Eindruck bei: die betonte Rhythmik, die rasan- ten Tempi, die extreme Agogik (rubati), die Betonung des Tanzmusikcharakters, die rhetorische Phrasierungsmanier, die Freiheit bei Improvisation bzw. Arrangement, der Hang zu technischer Perfektion und Virtuosität. McGegan 34 hat das Barockorchester als „jazz-like“ bezeichnet, insofern die „Continuo/Bass/Rhythm-Section“ an Bedeutung gewonnen hat und die Violinen gewissermaßen die ‚Improvisation‘ leisten. Mit solchen Akzentuierungen (der Affinität zur Popularmusik) setzt man sich allerdings leicht dem Vorwurf aus, man betreibe damit eine ‚Popularisierung‘, ‚Trivialisierung‘ und ‚Nivellierung‘ der Musik. Demgegenüber muss in der Tat der Anspruch aufrechterhalten bleiben, mit dem alternativen Interpretations- und Rezeptionsansatz den überkommenen Kunstanspruch ebenbürtig ablösen zu wol- len. Alte Musik = postmoderne Musik? (John Butt) Um den Begriff ‚Postmoderne’ nicht zum Synonym für ‚Beliebigkeit‘ verwässern zu lassen, sollte man sich immer seiner philosophischen Herkunft im französischen Neostrukturalismus (Lyotard, Derrida) vergewissern 35 . ‚Postmoderne‘ ist der Gegenbegriff zur Moderne und ihren zentralen Konzepten: der philosophische Begriff des Subjekts wird aufgegeben zugunsten selbstreferenzieller Strukturen, der Begriff der Ratio zugunsten der Heterogenität und Differenz, Systementwürfe aller Art (die ‚großen 25

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