Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Erzählungen‘) zugunsten paralleler ‚Sprachspiele‘, das Konzept des geschichtlichen Fortschritts zu- gunsten der Gleich-Gültigkeit aller Wirklichkeit, der Begriff des Objektiven (der Natur bzw. Gesellschaft) zugunsten der totalen Vermitteltheit (Medialität) alles Wirklichen. Um es auf den Bereich der Musik und ihrer Geschichte zu beziehen: Es gibt für das postmoderne Bewusstsein keinen kulturel- len Fortschritt, keine Avantgarde, alle musikalischen Überlieferungen sind ‚gleichberechtigt‘. D.h. die historische Aufführungspraxis ist ein Interpretationsstil von vielen in der pluralistischen Musikkultur. Die zunehmende Diversifizierung von Kultur – verbunden mit einem Kulturrelativismus – kann nicht abgestritten werden. Wie aber erklärt sich die in der Alten-Musik-Bewegung vorgängige Hinwendung zur Geschichte? Reicht es, auf die Diversifizierung als solche hinzuweisen, die sich auch in der Hinwendung zur sog. Weltmusik oder in der Öffnung zur Popmusik oder in den Formen elektronischer Musik der Avantgarde äußert? Wenn alles erlaubt und von Interesse sein kann, warum nicht auch bislang verdrängte geschicht- liche Traditionen? Es muss aber auch spezifische Gründe für die Geschichtshinwendung geben, um die Erfolgsgeschichte der historischen Aufführungspraxis im Musikleben zu erklären. Handelt es sich dabei um eine Kompensationsbewegung gegenüber einer verflachten Kultur, die unter dem Einfluss der Moderne Geschichte verdrängt, ja zerstört hat? 36 Eine solche Bewegung, die Parallelen im Religiösen und Politischen fände, würde aber der relativistischen Postmoderne zuwiderlaufen. Das Moment der kompensatorischen „Rück-Verzauberung“ (John Butt) angesichts einer komplex gewordenen Moderne ist wohl nicht zu leugnen und passt auch zur allenthalben sich verbreitenden ‚Kulturerbe-Industrie‘. Postmodern ist an solchen Fluchtbewegungen der Widerstand gegen das ‚moderne Bewusstsein‘ einer fortgeschrittenen, zu sich selbst gekommenen und in der Zukunft sich weiter entfaltenden Kultur. Noch wichtiger aber ist m. E. das postmoderne Motiv, die modernen Gewissheiten, was Rationalität, Zivilisation und Werte betrifft, aufzubrechen und das Heterogene, das Differente aufzusuchen. Was unter dem Signum des Archaischen, Barbarischen, Überholten stand, wird auf seinen entdeckbaren Reiz hin getestet. Konkret: Da hat man sich an die sauber intonierten, leicht zu erzeugenden Klänge von Blechblasinstrumenten gewöhnt, und da soll den urtümlichen, technisch kaum beherrschbaren Klangproduktionen von Naturhörnern wieder ein Reiz abgewonnen werden? Weil Verdrängtes neu ent- deckt wird, ist die historisierende Methode reizvoller als die innovative Fortschreibung der Mittel der Moderne. Alternativer Interpretationsansatz oder: die Entdeckung der Klangsinnlichkeit Solche Gedankengänge mögen den Vergangenheitsbezug und die Repertoirewahl begründen helfen, noch nicht aber den eigentümlichen Interpretationsansatz der Alten-Musik-Bewegung. Dieser geht nicht einfach in der sog. historischen Informiertheit auf (das Ergebnis könnte auch das der Frühphase, der sog. ‚Werktreue‘ sein). Entscheidender ist die Tatsache, dass überhaupt Fragen der sog. Spiel- und Aufführungstechnik in den Mittelpunkt rücken und damit das ureigenste Feld von Musik beschritten wird: die Dimension der Klangsinnlichkeit und ‚Musikalität‘. Erhellend und entlarvend wirkt ein Zitat von Nikolaus Harnoncourt, der inzwischen (s.o.) von der Alte-Musik-Szene abgerückt ist: „Das Instrument ist nur ein Werkzeug, und es ist keine Sache von höchster Wichtigkeit, ob ein Werk mit die- sen oder jenen Instrumenten gespielt wird /…/ Wenn es um die Inhalte emotionaler Art geht, die Art, wie und warum gespielt wird, dann kommt man mit dem üblichen Instrumentarium sehr viel weiter als mit einem historischen Instrumentarium; jedenfalls, wenn dort nur technische Fragen abgeklärt wer- 26

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