Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

den.“ 37 Die Grenzlinie wird mit diesem Zitat sehr deutlich markierbar: Entweder sind Instrumente bloß technische Werkzeuge, welche dem Ingenium des Interpreten dienen, oder sie sind das alles entschei- dende Medium, das sinnliche Musikerfahrung überhaupt konstituiert, das die Sinnlichkeit und den (strukturellen wie klanglichen) Reichtum von Musik offenbart. Dass Fragen der Aufführungspraxis nicht akademisch-historisch gemeint sind, sondern dass damit die alles entscheidenden Fragen nach der Klangsinnlichkeit von Musik gestellt werden und dass die Auseinandersetzung mit Artikulationstechniken, Klangfarben und technischer Virtuosität ins Innerste von Musik führt und nicht die ‚unterste Anforderungsstufe‘ für den Interpreten darstellt, - das ist die eigentliche Entdeckung der sog. historisch informierten Aufführungspraxis. Zur Bedeutung Alter Musik heute – Zusammenfassung und offene Fragen Alle bislang beschriebenen Facetten dessen, was Alte Musik gegenwärtig bedeutet – vor allem die letz- ten Gedankengänge –, lassen eine vorläufige Zusammenfassung zu. Diese Zusammenfassung ist ein Antwortversuch auf die schlicht formulierte Frage: Was macht die Alte Musik-Bewegung für das heu- tige Musik- und Kulturleben – für Künstler wie Publikum – so attraktiv, für die Gegenwart so relevant? Eine erste Antwort ist, dass die Alte Musik-Bewegung sich aus der Unzufriedenheit mit der Mainstream- Kultur entwickelt hat (in den 60er Jahren). Die herkömmliche ‚moderne‘ Interpretationsweise à la Furtwängler und Karajan wurde von einer jungen Künstlergeneration nicht mehr als modern, geschwei- ge denn als adäquat gegenüber vergangenen Kunstwerken empfunden, sondern vielmehr als überkom- men, schwerfällig bzw. oberflächlich (pastos, schwülstig, sentimental, außermusikalisch konnotiert durch Dirigentenkult, soziale Feierstimmung, Ausdrucksmanierismus, ideologische Überhöhung) – ein Stil, der zudem undifferenziert allen historischen Werktraditionen übergestülpt wurde. Die Metapher vom Gemälderestaurator, der die Patina abträgt, ist insofern nicht abwegig. Das viel beschworene ‚Hören wie zum ersten Mal‘ erklärt einen Teil des Enthusiasmus bei Künstlern und beim Publikum. Dieser Impetus, die überkommene Musikrezeption und den herkömmlichen Musikbetrieb zu hinterfra- gen und andererseits die musikalische Tradition neu zu beerben, ist ein wichtiger, entscheidender Teil der Antwort. Doch ist damit noch nicht positiv das Spezifische der Alte-Musik-Bewegung erklärt: Warum geschieht diese Rezeptionskritik nicht im Bezug auf die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern mit Bezug auf ‚alte‘ (vorbürgerliche) Musik und in einer bestimmten Weise, nämlich der sog. historischen Interpretations- und Aufführungspraxis? Rezeptionskritik ist das Eine, die Doppelfrage nach der Rezeptionswahl und Rezeptionsweise das Andere. Wie also erklärt sich die spezifische Rezeptionsweise, welche als ‚historische Auffassungspraxis‘ – bei aller terminologischen Fragwürdigkeit – bezeichnet wird? Die wiedergegebene Grundsatzdebatte hat gezeigt, dass diese Rezeptionsweise nicht mehr einfachhin als historisch-authentische Aufführungsweise, gewissermaßen als Rekonstruktion der historisch ersten Aufführung aufgefasst wird, schon weil man sich der Unmöglichkeit dieses Unterfangens bewusst geworden ist (vgl. Authentizitätsdebatte!). Dass die historische Ausrichtung gleichzeitig gegenwärtige, kreative Interpretationsimpulse aufnimmt, um zu einer aktuell-lebendigen (!) ‚historisch informierten‘ Aufführungspraxis zu gelangen, ist inzwischen Common Sense in der Alte-Musik-Szene. Was aber leistet überhaupt die historische Methode? Auf diese Frage sind mehrere Antwortrichtungen möglich. Erstens führt die wissenschaftlich-historische Zuwendung zum vergangenen Werk zu einer größeren Nähe und Vertrautheit mit dem geschichtlichen Kontext und der inneren Strukturiertheit von 27

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