Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

Kompositionen. John Butt hat dafür einen anschaulichen Vergleich verwendet: So wie man einen Menschen zu verstehen sucht, indem man die Eltern und die Familie kennenlernt, so versteht man ein Musikwerk besser, wenn man sich mit dem historischen Kontext beschäftigt. Bach wird verständlicher, wenn man ihn aus der Perspektive des 17. Jahrhunderts, aus der Perspektive Buxtehudes und Reinckens, betrachtet. 38 Die historische Methode ist also zunächst einmal die Ernsthaftigkeit und Intensität, sich mit einem Werk (der Vergangenheit) sehr genau auseinanderzusetzen (was Spezialisierung nötig macht) und dabei dessen Klangstrukturen und -gestalten freizulegen. Diese intensive Ernsthaftigkeit der Beschäftigung, an der es herkömmlicher Weise schon wegen der Repertoirefülle gefehlt hatte, birgt das innovative Potenzial bereits in sich. Man könnte dieses Potenzial – zugegeben schwärmerisch – im Sprachbild eines Märchens fassen. Anner Bylsma hat die Alte Musik verglichen mit Aladin, der die Wunderlampe reibt 39 und durch das Reiben eine Wunderwelt hervorzaubert. Diese größere Nähe zum Werk (durch historische Information) zieht aber folgerichtig (zweitens) auch eine größere Fremdheit des Werks nach sich. Das Spezifische eines Werks der Vergangenheit muss zwangsläufig in seiner Historizität, die auf uns Gegenwärtige als entfernt/fern wirkt, liegen. Und gerade diese Fremdheit macht als ‚Neues‘ die Attraktivität aus. Aber nicht alles Fremde ist eo ipso attraktiv. Das Fremde muss in einer Beziehung zur Gegenwart stehen. Es muss als Neues gegenwartskritisch wirken, zugleich moderne, gegenwärtige Bedürfnisse befriedigen und einer künstlerischen Kreativität entspringen. Um es an Beispielen zu verdeutlichen: Kaum jemandem würde es einfallen, Stummfilme der 20er Jahre in dersel- ben Praxis heute zu ‚remaken‘ oder Theater des 18. Jahrhunderts in historischer Dramaturgie aufzu- führen, oder noch provokanter: Würde J. S. Bach – auf einer Zeitreise befragt – große Chöre für die Aufführung seiner Kantaten und Passionen gefordert haben oder den in der historischen Aufführungspraxis üblichen Rubato-Stil und die schnellen Tempi abgelehnt haben, wäre das für uns Heutige im Sinne der Authentizität verpflichtend? Oder dürften wir nicht getrost dabei bleiben, histori- sche Informiertheit voranzutreiben und sie mit modernen Hörgewohnheiten zu verbinden. Wichtiger als die vorgängige Anpassung an den modernen Geschmack erscheint aber letztlich die musikalische Kreativität und Intelligenz des Interpreten zu sein, der aber nicht nur aus sich heraus (wie vielleicht Glen Gould), sondern durch genaue (historische) Werkbeschäftigung seine Anregungen und sein Medium fin- det. Es ist systematisch schwer zu fassen, im Hörvergleich oder spontan aber sehr wohl festzustellen, ob eine Interpretation einfallsreicher ist, origineller, rezeptionskritischer, technisch virtuoser, in der Phrasierung beweglicher und spannungsreicher, in der Strukturierung transparenter, im Vortrag musika- lischer, in der Auffassung intelligenter, in der Wirkung mitreißender und anrührender. Warum – und damit wird der zweite Teil der Doppelfrage thematisch – wendet man sich mit dieser ‚historischen informierten‘ kreativen Interpretationsweise gerade der Alten Musik und nicht der neue- ren Musiktradition (des 19. und 20. Jahrhunderts) zu? Steckt nicht doch eine Vergangenheitssehnsucht dahinter, die vom Standpunkt der Moderne aus betrachtet fragwürdig erscheinen muss? John Butt hat von der postmodernen Sehnsucht nach einem Fundament in der Geschichte gesprochen, welche die Oberflächlichkeit und Komplexheit der Moderne kompensiert. Und gewiss enthält das Alte-Musik- Interesse die Abkehr vom nur allzu Vertrauten der technisch-zivilisatorischen Umgebung und der stan- dardisierten Hörgewohnheiten, daher die ‚romantische‘ Aufmerksamkeit für Kirchengesänge, Spielmannsklänge und barocke Festlichkeit. Claus-Steffen Mahnkopf hat aber noch auf eine weitere Antwortrichtung verwiesen, die näher zu entfal- ten wäre. Warum findet in der Alte-Musik-Bewegung eine gewisse Abwendung von einer Kulturtradition 28

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