Tage Alter Musik – Jubiläumsschrift 2009

statt, die man als ‚bürgerlich‘ (im Sinne des 19. und 20. Jahrhunderts) bezeichnen müsste? Mahnkopf hat der spätromantischen und Neuen Musik einen Grundzug attestiert, dessen Bedeutung noch nicht die nötige Beachtung gefunden hat: Bürgerliche Musik beanspruche, Ausdruck der existenziellen Schwere bürgerlicher Innerlichkeit, ja der Zerrissenheit des Daseins und des gesellschaftlichen Leidens zu sein. Mahnkopfs These spricht eine interessante, bislang vernachlässigte Problemstellung an, die aber m.E. in einen anderen Argumentationskontext eingebettet werden sollte. Es ist weniger eine Frage des (spätromantischen) Musikcharakters, als viel mehr eine Frage der überkommenen Rezeptionsweise. Neuere Interpretationen durch Jos van Immerseel, Norrington, Gardiner u.a haben gezeigt, dass auch die (bürgerliche) Musik des 19. Jahrhunderts völlig neu beerbt werden kann. 40 Die bürgerliche Musik ist vielleicht weniger durch ihren Charakter, seinen genuinen Gehalt, belastet, als durch die herkömmliche Rezeptionsweise. Der theoretisch wie praktisch überfordernde Anspruch, unmittelbar Ausdrucksmedium für Außermusikalisches zu sein, für Gefühlstiefe, metaphysische Wahrheit, für die existenzielle und gesellschaftliche Daseinsnot, hat sie in die inzwischen verbrauchte Wiederholung von Ausdrucksklischees geführt. Diese Ausdrucksklischees hängen mit bestimmten Spiel- und Interpretationsmanieren zusammen – vom Vibrato-Spiel 41 über die selbstgenügsamen Stargebärden bis zur mangelnden Feinstrukturierung. Die Klischees bedienen eine Aura der sog. ‚Würde‘, des ‚Bedeutungsvollen‘, des ‚Ernstes‘ und des Pathos. Damit aber erfüllen sie eine gesellschaftliche Funktion: sie wirken affirmativ, bestenfalls kompensatorisch. Wie aber kann Musik ihre befreiende Funktion wiedergewinnen? Mit einer neuen Haltung zur Tradition, zum ‚klassischen‘ Musikerbe‘! Diese Haltung ist zu allererst als Rückbesinnung auf das Musikalische zu kennzeichnen Alte Musik ist Musik, die zu ihrer Medialität wieder zurückgefunden hat: d.h. zum Spielcharakter von Musik. Das bedeutet keine Reduzierung ihres Anspruchs, sondern im Gegenteil: Die neue Spielweise, so unprätentiös sie sich gibt, hält durchaus an demAnspruch fest, den die bürgerliche Auffassung ‚ästhe- tische Versöhnung‘ (Adorno) oder ‚Vorschein eines Besseren‘ (Bloch) genannt hat. Doch statt unmittel- bar und klischeehaft Ausdrucksmedium für Außermusikalisches (des Geistigen, Emotionalen und Gesellschaftlichen) sein zu wollen, spielt sie (im wahrsten Sinne des Wortes) ihre ureigensten Stärken aus: ihre Klangsinnlichkeit, ihr kreatives und artifizielles Spiel mit musikimmanenten Formen und Regeln. In der Art der musikalischen Materialbeherrschung, der Spielintelligenz und Virtuosität, wird der ‚schöne Schein‘ erzeugt, der als Utopie von Daseinsbewältigung wahrgenommen werden kann. Warum die sog. Alte-Musik-Bewegung ihre neue Spielweise gerade am vorbürgerlichen Musikrepertoire erfahrbar machte, ist eine wichtige Frage. Die Rezeptionswahl hängt sicherlich mit dem Charakter dieser Musiktraditionen zusammen: Höfisch-weltliche wie auch die geistlich-kirchliche Musik sind vergleichsweise unprätentiös, vermitteln Freude und Lust an Musik, einen musikimmanen- ten Bann, so z.B. die entfesselte Musizierlust des Barockkonzerts, das souveräne Spiel mit Figuren der Klangrede in der barocken Oper, die meditative Suggestion in sephardischen Klangwelten mittelalterli- cher Vokalmusik und auch die wie selbstverständlich übernommenen Ausdrucksformen weltlichen Konzertierens in Bachs Passionen. In dieser Rezeptionswahl erschöpft sich aber nicht das Selbstverständnis ‚Alter Musik‘. Vielmehr wurde an diesen Musiktraditionen eine Interpretationsweise entdeckt und realisiert, die musikgeschichtlich nach ‚oben‘ – sprich: bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein – keine Begrenzung findet. In der musikge- schichtlichen Kontinuität mit der sog. Alten Musik (musikgeschichtlich betrachtet) gewinnt sie viel- leicht einen adäquaten Zugang auch zu neueren Musiktraditionen, die in viel engerem Zusammenhang 29

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=