Tage Alter Musik – Programmheft 2006

weitreichenden politischen Bündnisse und die weitverzweigten verwandtschaftlichen Beziehungen der Herrscherfamilie. Musiker, Komponisten und Partituren reisten im Gefolge des Kaisers von Land zu Land, und so kam die gelehrte Vokalpolyphonie Nordeuropas mit dem warmen Klang der Musik der Länder Südeuropas in Berührung. Als Karl Spanien zu seinem Hauptregierungssitz machte, bezeichnete man seine Musiker aus dem Norden als die capilla flamenca (die flämische Kapelle), um sie von der neuen capilla spanischer Musiker zu unterscheiden, die er für seinen Sohn Philipp II. einrichtete. Aber trotz des Einflusses der franko-flämischen Polyphonie und des französischen Chansonstils verloren spanische Komponisten nie den Bezug zu Ihrem eigenen musikalischen Erbe, den Volksballaden oder romances mit ihren Texten von Liebe, Tod und Ruhm im Krieg gegen die Mauren. Die romance – Texte wurden durch Dichter weiterentwickelt – ganz so wie Venegas die Musik, die er transkribierte, erweiterte und entwickelte, und die dazugehörigen Melodien bildeten die Grundlage für alle Arten von Kompositionen von einfachen Liedern bis hin zu kunstvollen Variationssätzen oder diferencias . Die künstlerische Freiheit der fantasía erlaubte es den Komponisten, die akzeptierten Harmonie-Regeln zu brechen und gegensätzliche Stilarten zusammenzubringen. Eine iberische Variante der Choral-MelodiePange Linguaist wiederzufinden als Volksballade, in eleganten polyphonen Sätzen und sogar (weit weg auf den britischen Inseln) als Seemannstanz. DieFantasía en la manera de Luduvico von Alonso Mudarra aus seinen Tres libros für Vihuela von 1546 ahmt den Improvisationsstil eines berühmten Harfenisten nach, der in Diensten des Großvaters von Karl V., Ferdinand von Aragon, gestanden hatte. Mudarra formt das absteigende Arpeggio des Anfangsmotivs (eine typische Floskel des spanischen Harfenspiels) in eine ausgedehnte Folge vonconsonancias y redobles um. Der letzte Abschnitt wiederholt die Harmoniefolge mit einer schnell bewegten Oberstimme discanteüber dem langsam fortschreitenden tenor. In dem Stück kommt es mehrfach zu schneidenden Dissonanzen, in denen Oberstimme und Bass Diskordanzen bilden; werden diese falsas aber der Anweisung Mudarras entsprechend gespielt, klingen sie gut! Die „neue Musik“ im Spanien des 17. Jahrhunderts ging ganz andere Wege als die Experimente der accademie Italiens. Der auftauchende italienische Barockstil war ein intellektuelles Konstrukt: die Musiker versuchten „die Emotionen des Zuhörers zu bewegen“ mit den langsamen Harmonien des Rezitativs. Spanische Musiker wollten auch die Gefühle bewegen, aber zuerst bewegten sie die Füße der Zuhörer mit den unwiderstehlichen Rhythmen der Volkstänze und eingängigen grounds (Akkordfolgen). Einige dieser grounds waren international bekannte „Standards“, andere gehörten zu romance -Texten, viele waren populäre Tänze aus Spanien, Portugal, Südamerika, sogar Afrika. Ein paar einfache Akkorde – vereint mit den unwiderstehlichen Rhythmen spanischen Tanzes – reichten aus, eine reiche Welt literarischer, musikalischer und emotionaler Themen zu evozieren. Jeder dieser Tänze findet sich in Lucas Ruiz de Ribayazs BuchLuz y norte aus dem Jahre 1677, einem Führer für Entdecker: „Eine Laterne und ein Leitstern, die einen durch die ganze spanische Musik führen“. Ribayaz bietet Musik für jeden Tanz zusammen mit Anweisungen zum Improvisieren von diferencias. Die Akkorde der xácara führen uns in die kleinen Seitenstraßen im Madrid des 16. Jahrhunderts, eine Welt der Messerstecher, Kleinkriminellen und der verbotenen Liebe. Der fandango , gefunden in einer mexikanischen Handschrift, die vor kurzem als das „verlorene“ Buch des Barockgitarren-Virtuosen Santiago de Murcia identifiziert wurde, überlebt auch in der spanischen traditionellen Musik. Sowohl fandangoals auch xácarawaren verboten – wiederholt und ganz unwirksam – von den religiösenAutoritäten als sinnlich exzessiv und geeignet, die Moral der jüngeren Generation zu verderben! Spanische Tänze wurden die neueste Mode sogar im anspruchsvollverwöhnten Paris. Die populären spanischen zarabanda, pasacalle und chaconawurden dem französischen Geschmack - bon gout - angepasst und zu den langsamen noblen Tänzen der höfischen Suite: sarabande , pasacaille und chaconne. Die wilde folía der portugiesischen Renaissance wurde im barocken Versailles transformiert in die eleganten Variationen von Les folies d’Espagne . Chacona -Texte rufen die Party-Atmosphäre hervor, die man ursprünglich mit dem Tanz in Südamerika verband, lange bevor er übernommen wurde als das formale choreographische Finale französischer Opern: bei einerchacona- Soiree treffen Orpheus und El Cid zwei zankende Mädchen, 30 Mönche, 40 Tänzerinnen und einen Esel: „Aufs gute Leben in vollen Zügen gelebt: lasst uns alle tanzen die Chacona!“ © Andrew Lawrence-King TAGEALTERMUSIKREGENSBURG JUNI 2006 39 AUSFÜHRENDE THEHARPCONSORT Clara Sanabras Sopran, Gitarre Nancy Hadden Flöte, Gitarre Steven Player Tanz, Gitarre Michael Metzler Perkussion, Gitarre Andrew Lawrence-King spanische Harfe, Psalter PROGRAMM LUYSMILÁN Fantasía de consonancias y redobles (ca. 1500-ca. 1561) (El Maestro 1536) ANONYM Pabana: Niña era la infanta (Cancioneiro de Lisboa) IMPROVISATION NACH Gagliarda: La gamba HENESTROSA CHORAL Canto llano: Pange lingua gloriosum DIEGOPISADOR Quien uviesse tal ventura (um 1552) IMPROVISATION Romance: Quien uviesse tal ventura ANONYM Baile de marinero CABEZÓN /HENESTROSA Tiento XVIII GASPARFERNANDES Villancico: No haya más dulce alegría (ca. 1565-1629) ANONYM /SPANIEN Villancico: ¡Oh, qué bien que baila Gil! SANTIAGO DEMURCIA Fandango (ca. 1682-1714) TRAD . SPANIEN Fandango IMPROVISATION NACH Les folies d’Espagne (Chorégraphie 1700) FEUILLET ANONYM Folía: Não tragais borzeguis pretos (Cancioneiro de Paris) PAUSE ALONSOMUDARRA Fantasía de Luduvico (ca. 1510-1580) ANONYM Senhora del mundo (Cancioneiro de Paris) DIEGOFERNÁNDEZ Xácara: Tres moricas (gest. 1551) ALONSOMUDARRA Fantasia de harpa NARVAEZ /HENESTROSA Diferencias sobre las vacas DIEGOORTIZ Recercada de tenore (1510-1570) ANONYM /PERU Romance: Marizápalos bajó una tarde (17. Jh.) LUCASRUIZ DERIBAYAZ Gallardas (Luz y norte, Madrid 1677) (1626-?) IMPROVISATION NACH Chaconas: La isla de la chacona RIBAYAZ (Luz y norte, Madrid 1677) IMPROVISATION NACH Canarios Mexicanos (Saldivar Codex) MURCIA

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