Tage Alter Musik – Programmheft 2007

bruck. Handschriftliche Claviertabulaturen wie das Buxheimer Orgelbuch (München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus. 3725) und die Kleber-Or- geltabulatur gewähren weitere Einblicke in die große Tradition des verzierten Liedes. Während der zwanziger Jahre des 15. Jahrhun- derts wurde mit einem kompositorischen Stil experimentiert, der zwei gleiche Cantus-Stim- men in fugierter Imitation mit langsam voran- schreitenden Tenor-Stimmen vereinte. Diese Technik des „doppelten Discantus“, die in Nico- laus Grenons Weihnachtsmotette Nova vobis gaudia zu sehen ist, wurde von dem Tenor-Can- tus Rahmenwerk verdrängt, wie es Guillaume Dufays dreistimmige Chanson Se la face ay pale illustriert, ein Stück, das verschiedenen ausgezierten Orgelintavolaturen als Vorlage diente und mit einer hinzugefügten Stimme den Geschmack des späteren 15. Jahrhunderts re- flektierte. Die Mitglieder der alta capella spielten auch auf bas (leisen) Instrumenten wie der Blockflöte. Zahlreiche erhaltene Trios konnten sowohl ge- sungen als auch in Form instrumentaler Fantasi- en gespielt werden. Der Unterschied zwischen dem Trio und einem Werk wie der Motette Gaude, virgo, mater Jesu Christe liegt einzig darin, dass jenem der Text fehlt. Die Versuchung ist groß, beide Stücke demselben Komponisten zuzuschreiben - einem Mann, der höchste kom- positorische Fertigkeiten erkennen lässt. Während der Forschungen zu meiner Dissertati- on fand ich heraus, dass eine unbenannte und anonyme Messe auf einem französischen Chan- son basierte. Obwohl diese Missa Je ne fays plus in München 3154 weder Titel noch Zuschrift enthält, handelt es sich dabei sicherlich um die- selbe Messe, die Giovanni Spataro 1539 als ein Werk von Heinrich Isaac bezeichnete. Kyrie und Gloria mit ihren verzierten redictae (kurze wiederholte Motive) sind charakteristische Bei- spiele für Isaacs Frühstil und ragen als Typen von Messsätzen heraus, die oft von Instrumen- ten übernommen wurden. Unsere instrumenta- le Wiedergabe zweier Sätze stellt die „Wieder- entdeckung“ dieses verschollenen Meister- werks vor. Die Komponisten versahen liturgische Gesänge mit neuen Texten und polyphonen Elementen. Die Motette O plebs quae Deum amas verwen- det als Cantus firrnus einen Choral mit den Be- gräbnisworten Requiem in pacem, dona nobis eum in einem überraschend jubilierenden mehrstim- migen Satz. Alma chorus umgibt die Musik des O du armer Judas . Diese Karfreitags leyson (ein geistlicher Text, der auf die Worte Kyrie eleison endet) sollte später einen fünfstimmigen Satz des großen Komponisten Ludwig Senfl inspirie- ren. Nicht nur Bläser, sondern auch Kirchenorgani- sten spielten weltliche Lieder. Een vroylic wesen ist eine verzierte Version von Jacques Barbi- reaus flämischem Liebeslied, das sowohl in Lie- dern als auch Messen gern verarbeitet wurde. Bisweilen wird die Identität eines Liedes ver- schleiert - so etwa in der Kleber-Orgeltabulatur, wo der seltsame Titel Philephos aves eine Fas- sung des originalen Fille vous avez mal gardé darstellt. So wird klar, dass das Stück seinen Ur- sprung in einem von Heinrich Isaac komponier- ten, französischen Liebeslied hat. In Handschriften geistlicher Musik sind weltli- che Lieder mit lateinischen Texten erhalten. Adam von Fuldas O Jupiter/O diva sollers virgo vermischt die weltlichen deutschen Worte eines Tenorliedes mit einem lateinischen Hymnentext und wird hier von einem Blockflötenconsort ge- spielt. Komm heiliger Geist ist eine Paraphrase des berühmten lateinischen Hymnus Veni sanc- te spiritus . Die berühmte Melodie wird zwar Martin Luther zugeschrieben, doch er hat an- scheinend nur den Text verändert, der in den äl- testen überlieferten Fassungen von München 3154 zu finden ist. Wenig wissen wir über den Komponisten Johannes Beham , der eine vollen- dete Meisterschaft und ein großes Interesse an subtiler Chromatik verrät. Auch Sancta Maria wohn uns bei ist ein Kirchenlied, dessen An- fangsworte Luther veränderte (heute kennt man es als Gott der Vater, wohn uns bei ), womit er zum Komponisten eines bereits existierenden Liedes wurde. Unsere Darbietung präsentiert die anonyme monophone Melodie, ein einfa- ches Duo, und erweitert die vorhandene drei- stimmige Version um eine Stimme. Bei der Ein- richtung dieser Hymnen haben wir uns einen kleinen Engelschor in einer Miniaturkapelle vorgestellt - wie sie die Holzschnitte auf dama- ligen Weihrauchfässern und Reliquienkästchen zeigen. In der komplizierten Polyphonie und der blühenden Ornamentik dieser Quellen verber- gen sich einige der einfachsten und populärsten Lieder der Zeit. Da viele dieser Lieder nur mit bruchstückhaften Texten erhalten sind, helfen die ältesten literarischen Quellen bei der Rekon- struktion der Lieder. Wo vollständige Original- texte fehlen, versuchen wir eine der vielen Fas- sungen wiedererstehen zu lassen, welche die damals sich entwickelnde, reiche Liedtradition enthielt im Sinne jener mouvance, von der der große Poesie-Forscher Paul Zumthor sprach: Traditionelle Weisen existieren nicht in einer fi- xierten und verbindlichen Version, sondern in Familien mit zahlreichen fließenden Varianten. Als komplementäre Ergänzung zur mehrstim- migen Vertonung des Liedes Mein Herz in hohen Freuden ist (in München 3154) erforscht Douglas Milliken in seinem Arrangement Tech- niken, die von der feststehenden Kombination aus Dudelsack und Schalmeien übernommen worden sein könnten. Bei der sinnbildlichen Darstellung der rustikalen, irdischen Natur ein- facher Schäfer präsentieren sich Dudelsäcke im T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2007 23 Anna Levenstein Adam Gilbert Rotem Gilbert

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