Tage Alter Musik – Programmheft 2008

und dies tat er in der Absicht, die Polyphonie für die Responsorien der an- deren Nokturne zu reservieren, in denen die Lesungen keine eigene Musik hatten. Tatsächlich weist sich Victoria stets als perfekter Planer aus, der Ausgeglichenheit und Kontrast gleichermaßen sucht. Es genügt etwa darauf zu verweisen, wie, die Gesamtheit der drei Klagelieder jeden Tages betrachtet, Victoria das letzte mehrstimmiger komponiert und wie er dem Ende jedes Klageliedes („Jerusalem convertere“) auch eine zusätzliche Stimme verleiht. Victoria hatte die Klagelieder vorher komponiert, und vielleicht handelt es sich sogar um eines der ersten von ihm erhaltenen Werke. Deshalb sah er sich wohl gezwungen, möglicherweise unter dem Druck der Kritik ei- niger flämischer und italienischer Sänger, sie bei der späteren Veröffentli- chung nochmals zu überarbeiten. Er vereinfachte kleine Einzelheiten, ver- mied Wiederholungen und verringerte geringfügig den Umfang. Kürzlich hat Stefano Torelli auf die Möglichkeit verwiesen, dass Victoria die neue Version in der Absicht erarbeitete, sie in der Sixtinischen Kapelle aufzu- führen und sie so die Funktion einnehmen zu lassen, die bislang den tra- ditionell gesungenen Klageliedern Carpentras zukam. Er wurde jedoch enttäuscht, da er feststellen musste, dass der neue Papst Sixtus V. Palestri- na, welcher der Interpretation Bainis zufolge seinen Neid bezüglich des Luxus der Veröffentlichung Victorias kundgetan hatte, mit der Komposi- tion neuer Klagelieder beauftragte. Für Cramer wiederum hatte Victoria seinen Blick schon seit langem auf das Madrider Kloster der Descalzas Reales gerichtet, womit sich für ihn auch die Aufnahme von Fragmenten spanischer Melodien erklärt. Diesem Kloster hatte Philipp II. 1577 ange- ordnet, dass „die zwei Passionen von Palmsonntag und Karfreitag drei- stimmig wie gewohnt mit Responsorium der Menge zu singen sind und außerdem sei es verpflichtend in der genannten Osterwoche auch das Of- ficium tenebrarum und das Miserere mei zu singen“. Es wurde schon darauf verwiesen, dass Victoria die Responsorien des ersten Nokturns jedes Tages nicht mehrstimmig setzte, er jedoch sehr wohl Musik komponierte für die drei Responsorien des zweiten und des dritten Nokturns. Insgesamt achtzehn Responsorien. Die Texte der Klage- lieder des Jeremias beweinten die Zestörung Jerusalems und nur ihrer „Schrecklichkeit“ wegen wurden sie von der Kirche als Metaphern des Todes Jesu Christi übernommen. Die Texte der Responsorien wiederum beziehen sich auf die konkreten Geschehnisse jener Tage, wobei sogar Jesus selbst Worte in den Mund gelegt werden. Auf diese Weise versetzen sie uns aufs Beste in die Erzählung der Passion und des Todes an den drei Tagen: Die Abkehr und der Verrat machen das Wesentliche der Gefühlser- fahrung am Gründonnerstag aus, während es am Karfreitag die Kreuzi- gung und am Ostersamstag der Leichnam im Sarg ist. Vielleicht deshalb hat sich Victoria bei der Bearbeitung dieser Texte mehr als bei jedem an- deren Werk in seinem Element gefühlt, als es darum ging, in musikali- schen Bildern einige der literarisch bedeutungsvollsten Sätze auszu- drücken. Rhythmische Stilmittel wie die Beschleunigung, um die Eile der Verfolger aufzuzeigen, der die langsamen Akkorde entgegenstehen, wel- che den Tod und das Begräbnis des Gerechten begleiten; vokale Stilmittel wie das Unterdrücken dieser oder jener Stimme, je nachdem, ob die Han- delnden einer, zwei oder viele, jung oder alt sind; harmonische Stilmittel wie die kleineren Intervalle, umDunkelheit zu suggerieren, oder das nicht Beenden in der Tonika, um die „unschlüssige Spannung“ des Judas zu verbildlichen. All dies erscheint verwoben in einem vollendeten kontra- punktischen Netz, stets im gleichen Modus und mit wiederkehrenden Motiven, wenn gleiche oder ähnliche Wörter wiederkehren (Cramer spricht von Intertextualität). Dies wird auch durch ein vereinheitlichendes Vorgehen überlagert, was die Zahl der Stimmen (immer vier, die sich im Bibelvers auf drei, nur in „Amicus meus“ auf zwei, verringern) und deren Aufteilung betrifft (Cantus, Altus, Tenor und Bassus für das erste und dritte Responsorium jedes Nokturns und zweimal Cantus, Altus und Tenor für das zweite). Samuel Rubin pries diese Responsorien als „schönsten Edelstein von größtemWert“ und als „das Bild, das sich schon von weitem abzeichnet seines ausgeprägten Reliefs und seiner intensiven Farblichkeit wegen“ innerhalb des „Altarbildes“, des Officium Hebdomadae Sanctae. Ein Altarbild ist dieses einzigartige Werk Victorias wirklich. Und so wie auch die Bildtafeln eines Altarbildes ihren ganzen Wert nicht in der Kälte eines Museumssaales oder in einer Ausstellung entfalten können, sondern nur innerhalb ihres geschnitzten Rahmens, in ihrem architektonischen Umfeld und mit dem veränderlichen Licht der Kirchenfenster, so wird auch die Polyphonie Victorias ihre ganze Größe nur erreichen in Beglei- tung des gregorianischen Gesanges und der liturgischen Texte und einge- rahmt in eine Rekonstruktion der liturgischen Struktur, die ihr Sinn gab. © Alfonso de Vicente T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2008 26 P ROGRAMM Feria Quinta in Coena Domini - Ad Matutinum In Primo Nocturno Antiphona: Zelus domus tuae Versiculum:Avertantur retrorsum et erubescant Lectio secunda quattuor vocibus: Vau. Et egressus est In Secundo Nocturno Antiphona: Liberavit Dominus Versiculum: Deus meus eripe me de manu.... Quartum responsorium: Amicus meus Sextum responsorium: Unus ex discipulis In Tertio Nocturno Antiphona: Dixi iniquis Versiculum: Exsurge Domine Septimum responsorium: Eram quasi agnus Nonum responsorium: Seniores populi Feria Sexta in Passione Domini - Ad Matutinum In Primo Nocturno Antiphona: Astiterunt reges terrae Versiculum: Diviserunt sibi vestimenta mea Lectio secunda quattuor voc. par.: Lamed. Matribus suis In Secundo Nocturno Antiphona: Vim faciebant Versiculum:Insurrexerunt in me testes iniqui Quartum responsorium: Tamquam ad latronem Sextum responsorium: Animam meam In Tertio Nocturno Antiphona: Ab insurgentibus me Versiculum: Locuti sunt adversum me lingua dolosa Septimum responsorium: Tradiderunt me Nonum responsorium: Caligaverunt Sabbato Sancto - Ad Matutinum In Tertio Nocturno Antiphona: Deus Adjuvat me Versiculum: In pace factus est locus ejus Septimum responsorium: Astiterunt reges Nonum responsorium: Sepulto Domino De solemni actione liturgica In adoratione Crucis Vere languores Ecce lignum Crucis - Popule meus. Agios o Theos et Sanctus 4 voc. – ego propter te flagellavi.... Dieses Konzert wird in besonderer Weise vom Instituto Cervantes, München unterstützt.

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