Tage Alter Musik – Programmheft 2008

auch damals gab es eine große Variationsbreite der Musikpraxis. Für die h-Moll Messe griff Bach wie auch in anderen Fällen auf eigene schon vor- handene Kompositionen zurück, die teilweise schon 30 Jahre zuvor ent- standen waren. Diese Musik muss in Weimar sicher anders geklungen haben als später in Dresden oder Leipzig. Natürlich ist die lange und kontinuierliche Tradition deutscher Kantorei- en und Kirchenmusikensembles des 17. und 18. Jahrhunderts, der Bach angehörte und die er gewissermaßen mit der h-Moll Messe auf grandiose Weise abschließt, dokumentiert. In der direkten Linie, die Schütz und Bach miteinander verbin- det, lässt vieles eine lebendige und reiche Auf- führungspraxis erkennen. Partituren und Einzelstimmen enthalten oft nur spärliche Anweisungen und sind meist auf eine Stimme oder eine Anmerkung im Basso Conti- nuo-Part beschränkt. So muss es während der Aufführungen hörbare oder sichtbare Anwei- sungen des Kantors, Kapellmeisters oder Orga- nisten gegeben haben. Und, nicht zu vergessen, es gab ja die lange Musiktradition, bei der man ganz selbstverständlich wusste, wie man etwa mit demWechsel von Soli und Tutti umzugehen hatte. Es war eine Tradition, die von vielen berühmten Musikern gepflegt worden war, u.a. von Schütz, Scheidt, Schein, Bernhard, Ham- merschmidt, Tunder, Buxtehude und Bachs un- mittelbaren Vorgängern Schelle, Knüpfer und Kuhnau. Eine Vielzahl von musikalischen Termi- ni wie solo, tutti, favoriti, da cappella, Concerti- sten, Ripienisten, Prinzipalsängern, Choristen, Capellisten und Pleno zeugt von einer farbigen und abwechslungsreichen Aufführungspraxis. In der Kirchenmusik des 17. und 18. Jahrhun- derts stellten die instrumentalen und vokalen Solisten meist den Kern des Ensembles dar. Sie konnten von sogenannten Ripienisten verstärkt werden, die vermutlich ihre musikalische Rolle sehr gut kannten. Die Musiker bildeten zusam- men den „Coro“ (Gruppe von Instrumentalisten oder Sängern, oder eine Kombination von bei- den). Diese Ensemblestruktur war Ausgangs- punkt für das Musizieren. Durch die Gegenüberstellung von groß und klein konnte man beispielsweise den komposito- rischen Aufbau deutlicher darstellen, Kontraste kreieren und den Klang vergrößern. Klangliche Wechsel konnten musikalische Höhepunkte wir- kungsvoll aufbauen, bei Wiederholungen für Va- riation sorgen oder etwa einen Cantus firmus hervorheben. An dieser Gestaltung hatten die Musiker einen wesentlichen Anteil. Bei unserer Aufführung der Hohen Messe habe T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2008 36 Jos van Veldhoven Links: Thomaskirche & Thomasschule in Leipzig; rechts: J. S. Bach (Ölgemälde von E. G. Haußmann, 1746) The Netherlands Bach Society Foto: M. Borggreve

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