Tage Alter Musik – Programmheft 2008

T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2008 sche lyrische Dichtung“ genannt wird. Obwohl diese Bewegung ihre Wurzeln direkt in der lateinischen abendländlichen Tradition hat, ist sie nicht deswegen weniger origi- nell. Denn sie prägt eine tiefe Ver- änderung in der Kultur und in den Sitten der adligen Höfe dieser Zeit, nicht nur durch den bahnbrechen- den Inhalt ihrer dichterischen Rede, sondern auch weil die tradi- tionelle Verwendung des Latein als offizielle Sprache der Poesie zu Gunsten einer Mundart romani- scher Herkunft, im vorliegenden Fall des Okzitanischen, weicht. Der erste Vertreter der langen Nachkommenschaft von Dichtern, die im Okzitanischen vom XI. bis zum XIII. Jahrhundert schreiben werden und den die italienischen Liederdichter „den Graf von Poi- tiers“ nennen, ist sehr wahrschein- lich Wilhelm IX. Herzog von Aqui- tanien und Graf von Poitiers (1071- 1126). Die Manuskripte bewahren etwa zehn Gedichte von diesem Dichter, die ihm fast mit Sicherheit zugeschrieben werden können. Sein Werk beinhaltet Gedichte, die einen gewagten (ja sogar pornogra- phischen) Stil, aber auch die höfi- sche Gattung verwenden, so wie wir sie heutzutage bezeichnen. Ein Zeitgenosse und Lehensmann von Wilhelm IX. von Aquitanien, Eble II. de Ventadour („lo chanta- dor“ genannt), komponiert auch Liebesverse, welche die Geschichte leider nicht behalten hat. Die Dicht- kunst dieses Herrn wäre uns wahr- scheinlich total unbekannt, wenn die ihm nachfolgenden Trouba- dours in ihren Gedichten ihn nicht erwähnt und sich dabei auf seine Schule berufen hätten. Sie behaup- teten, dass ihre Kunst zu kompo- nieren von der neuen Gedanken- strömung geprägt gewesen sei, welche ihre Grundlage auf der Cortezia (Hofart) hatte, so wie Eble II. sie in seinen Liedern ausdrückte: sie sprachen von der Escola N’E- blon. Unser geheimnisvoller Dich- ter schien dann viel mehr in die Entstehung der höfischen Lyrik der Troubadours involviert zu sein, als der Graf von Poitiers es war. Da das dichterische Werk Ebles verloren gegangen ist, können wir die Prinzipien dieser Schule, deren bekanntester Vertreter der Trouba- dour Bernart de Ventadourn bleibt, nur durch das Werk der nachkom- menden Troubadours verstehen. Die Cortezia könnte als philosophi- sches Prinzip gekennzeichnet wer- den, das auf der Idee der Liebe zur Frau beruht. Weit davon entfernt, eine einfache „Kunst den Damen den Hof zu machen“ zu sein, soll- te sie den Liebenden dazu führen, seine Liebe davon zu reinigen, was sie nicht war, d. h. von der rein leib- lichen Begierde, von der Gier, den Anderen (die Frau) zu besitzen, von der auf dem Hedonismus be- ruhenden Freundschaft und noch mehr von dem materiellen und ge- sellschaftlichen Interesse. So sollte diese gereinigte Liebe (Fin’Amor) ihn vom ersten Stadium des fenhedor, dem Augenblick, wo er über die Liebe, die er für seine Dame emp- findet, nachdenkt, ohne sie ihr zu enthüllen, bis zum allerletzten Stadium des drut, d.h. des sinnli- chen Liebhabers seiner Dame führen. Was wesentlich die Art des Komponierens, des trobar, kenn- zeichnet, ist die Tatsache, dass der Troubadour seine Liebe immer zu einer ihm gesellschaftlich höher ge- stellten Frau sucht, unter denen, die zu der hohen adeligen Gesell- schaft gehören. So wird der Weg zum Fin’Amor ihm einen höheren persönlichen Wert geben und sein Paratge (ein Adelstitel, der nur durch Geburt oder Verdienst zu er- halten ist und der sich auf die edle Seele bezieht) steigern bis zur Ebene seiner Liebhaberin. Und nun erhebt sich das Lied Marcabrus , „der mit der Art des Komponierens (tobar) von Eble nicht einverstanden ist, denn es ist voll verrückt und gegen jeden Verstand. Ich habe gesagt, sage und werde sagen, dass die wahre Liebe und die sinnliche Liebe nicht vereinbar sind – Und derjenige, der die wahre Liebe tadelt, verdirbt unsere Werte“. Unter „sinnlicher Liebe“ ist nicht „fleischliche Liebe“, sondern „trieb- hafte Liebe“ im Sinne des „Fortpflan- zungsinstinkts“ zu verstehen und deshalb verwendet Marcabu tier- hafte Bilder. Seine Rede nimmt im Folgenden ihren Ursprung: Fin’A- mor gibt es, aber ihr irrt euch! Was ihr für Fin’Amor haltet ist nur ein trieb- haftes Bedürfnis! Lasst euch nicht täu- schen und seid angemessen! Aber siehe, die Herren und ihre Damen hal- ten ihre Lust für Fin’ Amor und jeder wird zum Liebhaber und macht den Hof nach seiner „Begierde“. Und nie- mand kommt zu kurz, weil unter dem Deckmantel des Paratge die Kleinsten auch damit anfangen. So vertrauen sich die Frauen des großen Pretz (die Werte, die den Grad des Adels bestim- men) Schelmen an und verderben ihre Abstammung, weil sie Mischlinge auf die Welt bringen: wie eine Windhün- din, die sich mit einem Mopsbastard zusammentut... Hier findet Marcab- ru den Weltuntergang. Denn die göttliche Ordnung wird bewahrt, solange der richtige Lauf der Dinge besteht: die Mächtigen regieren die Welt und ihre Abstam- mung bürgt für ihre Fähigkeit zu regieren. Aus ihren Ausschweifun- gen kommen Bastarde auf die Welt, die ihr Blut verderben: „aus einem schlechten Samen entsteht ein schlech- ter Baum, aus einem schlechten Baum ein schlechter Ast und aus einem schlechten Ast eine schlechte Frucht... und aus einem schlechten Pferd ein Biest!“ Die Welt stürzt sich also in den Untergang und Macabru sieht in der Entgleisung des Fin’Amor Voraussetzungen für die Apoka- lypse. Er personalisiert die falsche Liebe (die sinnliche Liebe) als die große Prostituierte der Apokalyp- se, von der man erst zu spät merkt, dass der Trank der Schale, die sie uns anbietet, bitter ist: „Wer der Hure sein Vertrauen schenkt, ist ver- dammt. Wenn er meint, er bringe sie zum Lachen, macht sie sich in Wirk- lichkeit lustig über ihn! Sie kennt so viele Tricks, die mogelnde Sünderin, dass derjenige, der sich mit ihr bindet, nur beschädigt sich von ihr lösen kann.“ So warnt Macabru alle Mächtigen dieser Welt, Könige, Herzöge und Kaiser vor den Reizen der falschen Liebe, die sie in die Unzucht und den Geiz hineinzieht, und bittet sie darum, das Mezura (Maß) nicht zu verlieren, die Proeza (Heldentat) und Larguessa (Gaben) zu pflegen, durch welche Freude und geistige Jugend erhalten bleiben, und die- sen geringen Troubadouren nicht zu sehr zuzuhören, die rastlos und unruhig sind; denn er weiß wohl, dass „diese kümmerlichen Wesen das Herz (das Zentrum der Liebe) knapp unter der Gürtellinie haben!“ So kann uns das Werk Macabrus überraschen. Dieser Mann der ehrlichen und unverblümten, ge- raden und zusammenhängenden Rede behauptet selbst, dass wir in seinen Gedichten keine gegensätz- lichen Gedanken, keinen Wider- ruf, kein „mit Rost beflecktes“ Wort werden finden können. Wahrhaf- tig: sein zwingender Ton nervt uns...und bringt uns manchmal zum Schmunzeln..., aber niemals bleiben wir unberührt von seinen treffenden Äußerungen und den so scharfsinnigen Analysen, welche er uns von einer feudalen Gesell- schaft gibt. © Brice Duisit 41 P ROGRAMM „S I CUM M ARCABRUS D ECLINA …“ A L ’ ALENA DEL VENT DOUSSA A L P RIM COMENS DE L ’ IVERNAILL A L SON DESVIAT CHANTAIRE B EL M ’ ES CAN S ’ ESCLARZIS L ’ ONDA D IRAI VOS SENES DOPTANSA P OS L ’ IVERNS D ’ OGAN ES ANATZ L’ IVERNS VAI E ’ L TEMPS S ’ AIZINA B EL M ’ ES CAN SON LI FRUICH MADUR Leerer Beutel Die Ge- schichte des Leeren Beu- tels reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Der Leere Beutel in seiner heuti- gen Gestalt stammt aus dem 16. Jahrhundert. Er diente der freien Reichsstadt als Getreidevorrats- speicher, mit dem man sich gegen Notzeiten wie Mißernten und Kriege und gegen die immer häu- figer verhängten bayerischen Ge- treidesperren abzusichern ver- suchte. Die vom Eingang an der Giebelseite in die Halle führende Treppe ist einWerk des Bildhauers und Steinmetzes Michael Dietlmaier (1606/07), der auch die Engelkonsole an der Südostecke des Reichssaals sowie die Trep- penbrüstung imAlten Rathaus ge- schaffen hat. Brice Duisit Foto: Robin Davis

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