Tage Alter Musik – Programmheft 2008

aufgeführt werden konnte. Der satanische Aspekt des „Totentanzes“ wird durch die alles Frühere übersteigende Virtuo- sität des Klavier- und des Orchesterparts noch unterstrichen. Wie die „Ungarischen Rhapsodi- en“ ihre formale Kühnheit damit rechtfertigten, dass sie sich auf die Virtuosität der Zigeuner- Musiker beriefen, so tobt sich die wilde musika- lische Phantasie des „Totentanzes“ in der Vir- tuosität des Pianisten wie des Dirigenten aus. Liszt war in beiden Funktionen auf dem Höhe- punkt seiner Weimarer Jahre im Vollbesitz sei- ner Kräfte. Hector Berlioz: Symphonie fantastique Die Symphonie fantastique ist das frühe Meisterwerk des eigenwilligen Franzosen Ber- lioz. Außergewöhnlich in Besetzung, Form und Inhalt schlägt es eine neue Richtung in der Ge- schichte der Sinfonie ein, weil es in zuvor nicht dagewesenem Maße außermusikalische Inhalte darstellt. Getrieben von eigenen Gefühlen und Erlebnissen komponierte Berlioz eine der berühmtesten Programmusiken des 19. Jahr- hunderts. Es war 1827, als eine Truppe englischer Schau- spieler nach Paris kam und dort großen Erfolg mit Shakespeare-Aufführungen hatte. Wie auch zur selben Zeit in Deutschland entdeckte man das Werk des englischen Dramatikers, das Ber- lioz auf der Bühne des Odéon im englischen Original kennenlernte. Während sich Mendels- sohn in Berlin durch Shakespeares Stoffe inspi- rieren ließ, war Berlioz, auch wenn er Shakes- peare liebte, einer Schauspielerin verfallen, deren leidenschaftliche Darstellungen der Ophelia oder der Julia ihn faszinierten. Diese Schauspielerin, Harriet Smithson, war der Star jener Jahre in Paris. Ohne sie persönlich kennen- gelernt zu haben, hatte sich der 26-jährige Ber- lioz unsterblich in diese Frau verliebt. In seinen Memoiren liest man von infernalischer Leiden- schaft und von fehlgeschlagenen Versuchen des Komponisten, auf sich aufmerksam zu machen: „Ach, ich habe später erfahren, dass sie, die nur ihrer herrlichen Aufgabe lebte, von meinem Konzert, meinem Erfolg, meinen Anstrengun- gen und von mir selbst nicht einmal hatte spre- chen hören.“ Die leidenschaftlichen Gefühle für Harriet Smithson trieben Berlioz zu immer größeren Unternehmungen und nachdem die Schauspielerin Paris wieder verlassen hatte, war es für den Komponisten selbstverständlich, ihr nach London zu folgen: Wenn ich eine Instru- mentalkomposition geschrieben habe, die ich jetzt plane, werde ich aber doch nach London gehen, um sie dort aufführen zu lassen, damit ich vor ihren Augen einen glänzenden Erfolg er- ziele (Brief vom 3. Juni 1829 an Humbert Fer- rand). Hier spricht Berlioz sicher schon von der Symphonie fantastique. Man muss sich, wenn man von seinen Plänen liest, vor Augen halten, dass eine Aufführung mit einem großen Orche- ster nicht so leicht zu organisieren ist, schon gar nicht für einen unbekannten Franzosen in der Musikmetropole London. Berlioz aber war be- sessen und verfolgte seine Ziele unnachgiebig, auch wenn der Blick für das Machbare oft fehlte. Aus der Aufführung in London wurde nichts. Berlioz hatte zunächst keinen Erfolg, weder als Komponist noch den geringsten bei Madame Smithson. Während er an der Symphonie fanta- stique arbeitete, schlug seine grenzenlose Liebe in Verachtung um. In einem Brief an Ferrand vom 13. Mai 1830 schrieb der Komponist: „Ich beklage und verachte sie. Sie ist begabt, um See- lenqualen auszudrücken, die sie selbst nie emp- funden hat. Sie ist nicht fähig, ein so unendlich tiefes und edles Gefühl, wie das, mit dem ich sie beehrte, zu fassen.“ Wenige Monate später be- zeichnete er Smithson als elende Dirne. Berlioz neigte in seinem Gefühlsleben anscheinend zu Extremen und solch starke Regungen können nicht von Dauer sein. Entsprechend entwickelte sich das Liebesleben des jungen Komponisten: Während er Smithson hasste, liebte er die junge Pianistin Camilla Moke. Sie vergaß er aber schnell wieder, als er im Winter 1830 nach Rom reiste, wo ihm ein Stipendium einen zweijähri- gen Studienaufenthalt in der Villa Medici er- möglichte. 1832 kehrte Berlioz nach Frankreich zurück, traf im Dezember mit Smithson zusam- men und - wer hätte es für möglich gehalten? - heiratete sie im folgenden Jahr. Acht Jahre nach der Hochzeit, das öffentliche Interesse an der Schauspielerin Smithson hatte längst nachgelas- sen, begann die Affäre zwischen Berlioz und der Sängerin Marie Recio (eigentlich Marie Martin), elf Jahre nach der Hochzeit (1844) trennte sich Berlioz von seiner Frau. Im März 1854 verstarb Smithson und im Oktober des gleichen Jahres heiratete Berlioz die neun Jahre jüngere Recio - so viel zum Thema Harriet Smithson. Eigenwillig wie der Mensch erscheint auch der Komponist Berlioz. Das Studium der alten Mei- ster und Kompositionstechniken, wie man es am Pariser Conservatoire von jedem Studenten erwartete, interessierte ihn nicht. Als ein Gremi- um von Kompositionsprofessoren ein frühes Werk und dessen kontrapunktische Konstruk- tionen bemängelte, sagte der junge Komponist, anstatt sachlich auf die vorgeschlagenen Kor- rekturen einzugehen: er habe den größten Ab- scheu vor allen Studien und glaube, dass sie einem Menschen von Genie gar nichts nützten. Bescheidenheit war nicht seine Sache. Nicht we- nige Künstler hielten sich für Ausnahmeerschei- nungen und erst die Zeit hat - bei dem einen früher, bei dem anderen später - das wahre Ta- lent offenbart. Berlioz’ arrogantes Auftreten hätte vielleicht einen Dämpfer verdient, aber man kann ihm aus heutiger Sicht sein Genie nicht absprechen. Seine Musik ist auf eine ande- re Weise genial als die eines Bach, Mozart oder Beethoven. Berlioz entwickelte einen völlig un- abhängigen Stil (sicher auch ein Zeichen seiner Eigenwilligkeit) und verstand es auf besondere Weise, seine Musik zu instrumentieren. Darüber hinaus beeindruckt die Originalität seiner melo- dischen Einfälle. Verantwortlich für seinen Er- folg, der allerdings erst langsam kam, war sicher auch, dass Berlioz mit seiner Kunstauffassung in die Zeit passte. Er war ein echter Romantiker und eine Programmsinfonie wie die Symphonie fantastique wurde typisch für das 19. Jahrhun- dert. Berlioz lies das Programm ans Publikum verteilen, da es zum völligen Verständnis des dramatischen Planes dieses Werkes unerlässlich ist. Das Programm der Symphonie fantastique gibt es in verschiedenen Versionen, die sich mehr oder weniger unterscheiden. Programm der Symphonie: Ein junger Mann von krankhaf- ter Empfindsamkeit und glühender Phantasie, hat sich in einem Anfalle verliebter Verzweif- lung mit Opium vergiftet. Zu schwach, den Tod herbeizuführen, versenkt ihn die narkotische Dosis in einen langen Schlaf, den die seltsam- sten Visionen begleiten. In diesem Zustande geben sich seine Empfindungen, sein Gefühle und Erinnerungen durch musikalische Gedan- ken und Bilder in seinem kranken Gehirne kund. Die Geliebte selbst wird für ihn zur Melo- die, gleichsam zu einer fixen Idee, die er überall wiederfindet, überall hört. Dieses in allen Sätzen präsente Motiv, die idée fixe, ist das wesentliche Merkmal der Sympho- nie fantastique und ein Markenzeichen des Komponisten Berlioz. Früher hatte jeder Satz einer Sinfonie oder einer Sonate sein eigenes motivisches Material, nur selten kam es vor, dass auf Gedanken vorangegangener Sätze zurückgegriffen wurde (ein Beispiel wäre Beethovens Neunte). Aber noch nie wurde in einer Sinfonie ein Motiv so satzübergreifend verwendet wie in der Symphonie fantastique und Berlioz rechtfertigt dies in seinem Pro- gramm, indem er das Motiv mit einem Charak- ter verbindet, nämlich mit der unsterblich ge- liebten Frau. Berlioz sprach auch von einer double idée fixe, weil der berauschte junge Mann von zwei Vorstellungen verfolgt wird: vom Gedanken an die Geliebte und von der ihr gewidmeten Melodie. Im Geist des Helden ver- selbständigen sich also zwei fixe Ideen - patho- logisch gesehen eine Herausforderung für jeden Therapeuten! Programm der Symphonie fantastique Erster Satz: Träume-Leidenschaften Der Komponist stellt sich vor, dass ein junger Musiker, der unter dem Einfluss jenes seelischen Leidens steht, das ein berühmter Schriftsteller als “le vague des passions” bezeichnet, zum ersten Mal eine Frau sieht, die in sich alle Reize des Idealwesens vereinigt, das er sich in seiner Vorstellung erträumt hat, und dass er sich sterb- lich in sie verliebt. Eigentümlicherweise zeigt sich das geliebte Bild dem geistigen Auge des Künstlers nie, ohne mit einem musikalischen Gedanken verbunden zu sein, in welchem er einen gewissen leidenschaftlichen, aber noblen und schüchternen Charakter erkennt, wie er ihn auch dem geliebten Wesen zuschreibt. Dieses musikalische Bild und dessen Vorbild verfolgen ihn unaufhörlich wie eine doppelte “idée fixe”. Dies ist der Grund, warum das An- fangsmotiv des ersten allegro konstant in allen Sätzen der Sinfonie wiedererscheint. Der Über- gang aus dem Zustand melancholischen Träu- mens, unterbrochen durch einige Anwandlun- gen zielloser Freude, zu jenem einer verzückten Leidenschaft mit ihren Regungen von Zorn und Eifersucht, ihren Rückfällen in Zärtlichkeit, ihren Tränen, ihrem Streben nach religiösen Tröstungen, dies ist der Gegenstand des ersten Satzes. Zweiter Satz Ein Ball Der Künstler ist in die verschiedensten Leben- sumstände versetzt: mitten in den Tumult eines Festes, in friedvolle Betrachtung der Schönhei- ten der Natur; aber überall, in der Stadt, auf dem Lande, erscheint das teure Bild vor seinem T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2008 48

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