Tage Alter Musik – Programmheft 2009

D as französische Mittelalter-Ensemble Dis- cantus zählt sicherlich zu den herausra- genden a-cappella-Formationen in der Alte- Musik-Szene. Es hat in den 15 Jahren seines Be- stehens Vokalmusik von den ersten mittelalterli- chen Notationen des 9. Jahrhunderts bis hin zu Vokalkompositionen des 15. Jahrhunderts inten- siv erforscht, in unzähligen Konzerten auf- geführt und bis heute mit 13 CD-Einspielungen eindrucksvoll dokumentiert. Treibende Kraft des Ensembles ist die Leiterin, Sängerin und Lehrerin Brigitte Lesne , der es gelungen ist, mit Discantus einen einzigartigen Klangkörper von angenehm herbem, obertonreichem, ja sphäri- schem Wohlklang zu bilden. Neben der intensi- ven Arbeit mit Discantus , betreut sie auch das sehr erfolgreiche Ensemble Alla francesca. Da- neben unterrichtet Brigitte Lesne am Centre de musique médiévale de Paris. Zum Programm: I. Jerusalem, dort herrscht ewiger Frühling Die Stadt Jerusalem, Vision des Friedens, vielbe- sungener Mythos und Abbild einer himmli- schen Stadt ist Thema unseres ersten Konzert- teils. Wir beginnen mit einem Hymnus, der in Nevers mit zwei wechselnden Melodien gesun- gen wurde. Dies ist ungewöhnlich, da die Stro- phen normalerweise einer einzigen Melodie fol- gen. Daran schließen sich unterschiedliche Ge- sangsgattungen verschiedener Manuskripte wie Laon, Saint-Martial, Oxford/Worcester an. II. Garten der Wonnen, in dem die Sonne nie- mals untergeht „Garten der Wonnen“ ist der Titel einer Enzy- klopädie, die von einer bekannten Frau des 12. Jahrhunderts namens Herrad von Hohenburg (oft auch als Herrad von Landsberg bezeichnet) zusammengestellt wurde; und es ist zugleich ein geeignetes Bild zur Beschreibung des Jahr- hunderts selbst mit seinen außergewöhnlich weitreichenden und vielfältigen Aspekten - oft charakterisiert als eine „Wiedergeburt“ von Kultur und Gelehrsamkeit. Dieses Jahrhundert der Troubadours und Trou- veres, des Ruhms der aquitanischen Polypho- nie, begann unter den Vorzeichen der siegrei- chen Kreuzzüge, jener Unternehmungen, deren eine Wirkung darin bestand, den Einfluss des kulturellen und künstlerischen Reichtums des Ostens, der die westliche Welt prägen sollte, grundzulegen. Dann gab es am Ende des Jahr- hunderts das großartige Projekt der Vereinigung Frankreichs mit seinem kulturellen Zentrum Paris, dem Dom von Notre-Dame und den großen Abteien von Sainte-Genevieve und Saint-Victor. Beziehungen zwischen den ver- schiedenen Städten und kulturellen Zentren Eu- ropas waren bereits eingerichtet, und an Orten wie Paris, Bologna, Oxford und Salamanca soll- ten bald Universitäten gegründet werden. Und Köln, ein wichtiges Zentrum für Handel und kommerziellen Austausch am Rhein, wurde ab 1164 ein Pilger-Ort von internationaler Bedeu- tung. Während das 10. Jahrhundert beunruhigt, ja traumatisiert wurde durch die Invasionen der sog. ‚Barbaren‘, war das 11. Jahrhundert im Ge- gensatz dazu Zeuge geworden einer fortschrei- tenden Stabilisierung und des Wiederauflebens der kirchlichen Welt, in der es dem Klerus ge- lang, sich zu stärken, seine Stellung zu konsoli- dieren und seinen Einfluss auszudehnen. Die Pracht vieler der überlieferten Musikhand- schriften bezeugt den Reichtum der zahlreichen Stiftungen, Dome und Abteien, denen sie ent- stammen. Durch die neue Kunst des mehrstim- migen Gesangs in Organa, wie beschrieben von dem Italiener Guido d’Arezzo und praktiziert in den Musikzentren Galliens und Englands, wur- den neue Klangwelten entdeckt, deren bloße Möglichkeit man sich vorher kaum vorstellen konnte. Und die musikalische Notation wurde fortent- wickelt und verändert, besonders während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts: ursprünglich diente sie nur als Erinnerungshilfe für Leute, welche die Musik schon gehört hatten, aber spä- ter wurde ein System erfunden, mit dessen Hilfe man Musiknoten in einer Art darstellen konnte, die es möglich machte, ein Werk ohne dessen vorherige Kenntnis aufzuführen. Dies hatte eine wahrhaft revolutionäre Auswirkung, wie viele der Melodien, die hier zusammengebracht wur- den, zeigen. Nur durch diese Neuentwicklung wurde es möglich – anders als bei der im neun- ten Jahrhundert entstandenen frühen Notation -, von schriftlicher Musiküberlieferung im wirkli- chen Wortsinn zu sprechen, welche die rein mündliche Überlieferung ersetzen konnte. Das 12. Jahrhundert brachte eine Explosion an musikalischer Erneuerung, die entweder das überkommene Material eingeschränkt hatte oder einen außergewöhnlichen Erfindungs- T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG Discantus (Frankreich) M AI 2009 Sonntag, 31. Mai 2009, 22.45 Uhr (Nachtkonzert), Dominikanerkirche , Predigergasse Leitung: Brigitte Lesne 34 Discantus „Visionen der Ewigkeit“ Geistliche Vokalmusik vom 11. bis 15. Jahr- hundert Brigitte Lesne Foto: S. Vincenti

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