Tage Alter Musik – Programmheft 2009

T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2009 reichtum ermöglichte. Das grundlegende Reformideal der Zisterzienser veranlasste sie in doch etwas kühner Weise, den ‘offiziellen’ Stil der Ge- sänge in eine größere Einfachheit und Authentizität überzuführen. Neben Reduktionen dieser Art finden wir auch Werke, die in ganz gegensätzli- chem Geist geschrieben sind, auch für die Kirche, aber nicht zur Auf- führung innerhalb von Gottesdiensten: die innovative Polyphonie und Kompositionen der Schule von Limoges, deren Klangwelt und Idiomatik denen der frühesten Troubadour-Kompositionen nicht unähnlich sind. Die als ‘liturgische Dramen’ bekannten gesungenen Aufführungen wur- den entwickelt und ausgeweitet bis zu dem Punkt, wo der Weihnachts- Zyklus z. B. den Charakter einer üppigen Feier annahm, die wohl als außerliturgisch beschrieben werden kann, enthält sie doch solch ‘populä- re’ Festlichkeiten wie die für den Esel, die Narren usw. (wie wir sie in Be- auvais, Sens, Laon finden). In dieser Zeit erlangen mehrere großartige und unverwechselbare weibli- che Persönlichkeiten große Bedeutung: Heloisa (etwa 1100-1164) war Abel- ards loyale Gefährtin in seiner intellektuellen Forschung; Eleanor von Aqui- tanien (etwa 1122-1204) war ‘Gastgeberin’ für einige der frühesten Trouba- dour-Dichter-Musiker; an den Ufern des Rheins war Herrad von Hohenburg (gestorben 1195) so fasziniert von der Tiefe und Weite menschlichen Wis- sens, dass sie eine veritable Gelehrten-Enzyklo- pädie zusammenstellte, und schließlich Hilde- gard von Bingen (1098-1179), die körperliche wie geistliche Möglichkeiten suchte, menschliches Leiden zu erleichtern. All diese Frauen waren an den Künsten und der Literatur interessiert, drückten sich durch Musik aus und fühlten sich begünstigt durch den Zugang zu solch übernatürlichen Vergnügungen, eben jenen Wonnen, die einen direkten menschlichen Aus- druck finden in Herrad von Hohenburgs Hortus deliciarum. Dieser allumfassende Überblick über Wissen und Gelehrsamkeit wurde zwi- schen 1159 und 1175 in Hohenburg zusammengestellt, in dem Kloster auf dem Hügel von St. Odile, dessen Äb- tissin Herrad war. Seine fast 600 Seiten geben einen Bericht über die biblische Geschichte zusammen mit einem Kommentar, der aus Zitaten von anti- ken und zeitgenössischen Autoren sowie Betrachtungen mehr säkularer Art über viele verschiedene Aspekte zusammengestellt ist. Diese Seiten sind angereichert mit Reflexionen über Mythologie, Astronomie, Geo- graphie und natürlich Musik ebenso wie mit Herrads erstaunlichen Beob- achtungen über die verschiedenen Aspekte der Seelsorge. Ihr Kommuni- kationsbedürfnis wird bezeugt vor allem durch die Vielzahl von Illustra- tionen, 336 Zeichnungen, die für die spätere Reputation des Werks maß- geblich sind. Im folgenden Jahrhun- dert sollten die Bibeln moralisierend Gebrauch machen von ähnlichen Vi- sualisierungen zu Zwecken der Ver- breitung und Kommunikation. Her- rads Buch hat nicht nur eine beein- druckend reichhaltige Ikonographie, sondern auch eine poetische Dimensi- on, da es mit einer Gruppe von Ge- sängen und Hymnen endet. Der Ruf Hildegards von Bingen ist uns auf vielen Wegen – auch außerhalb 35 Darstellung der Hölle im “Hortus deliciarum” Darstellung der Hilde- gard von Bingen Darstellung der Kreuzigung im “Hortus deliciarum”

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=